AM ENDE DES WASSERFALLS

90% ALLER INDUSTRIEUNTERNEHMEN BIETEN IN DEN NÄCHSTEN FÜNF JAHREN PRODUKTE AN, DIE EINEN SOFTWARE-ANTEIL BESITZEN UND IM IOT VERNETZT SIND.

Sie bilden die Grundlage für produktnahe Services und ebnen den Weg für neue, digitale Geschäftsmodelle. Nur die Entwicklungsabteilungen sind darauf nicht vorbereitet.

Als im September 2017 Hurrikan Irma auf die Küste von Florida zuraste und Hunderttausende Menschen ihre Häuser verließen, um ins Landesinnere zu fliehen, reagierte der Elektroautobauer Tesla umgehend – mit einem Software-Update. Mit diesem deaktivierte der Hersteller die in manchen Modellen eingesetzte Leistungsbeschränkung der Batterie und setzte so zusätzliche Akkukapazitäten frei. Durch einen simplen Download erhöhte sich so die Reichweite der Fahrzeuge auf einen Schlag um rund 20% und ermöglichte Tausenden Tesla-Fahrern eine sichere Flucht vor dem Hurrikan.

REICHWEITE AS A SERVICE

Das Beispiel von Tesla steht sinnbildlich für eine neue Produktwelt, in der sich klassische Industriegüter mehr und mehr durch Elemente jenseits von Hardware definieren. Die Kombination aus elektromechanischen Komponenten, Rechenleistung und Konnektivität bildet dabei die Grundlage für eine Reihe von ergänzenden Lösungen und Leistungen rund um das Kernprodukt, wie etwa Predictive Maintenance oder die Vermietung von Maschinenkapazitäten. Über diese smarten Produkte haben Hersteller die Möglichkeit, über den Verkaufszeitpunkt hinaus mit den Kunden in Kontakt zu bleiben, Funktionen zu ergänzen und ihr Produkt so an aktuelle Trends anzupassen – und diese zu monetarisieren. Dadurch verändert sich nicht nur der Funktionsumfang einzelner Produkte, sondern das gesamte Produktportfolio eines Unternehmens. Anstelle eines Produkts, das einmal verkauft wird und 20, 30 oder sogar 40 Jahre lang in der gleichen Art und Weise vom Kunden genutzt wird, tritt ein hybrides Leistungsbündel aus einer physischen Komponente und ergänzenden Applikationen, die dem Kunden über die gesamte Lebensdauer des Produkts hinweg angeboten werden können.

Wie das in der Praxis funktioniert, macht das Beispiel von Tesla deutlich: Denn die Begrenzung der Batterieleistung hat nicht primär technische Gründe, sondern ist Teil des Preismodells: Kunden können eine preisgünstigere Fahrzeugvariante erwerben, die sich Hardwareseitig nicht von den übrigen Modellen unterscheidet, aber nur auf 60 Kilowattstunden der eingebauten 75 Kilowattstunden Batterieleistung zugreifen. Nicht mehr die Hardware bildet also das differnzierende Merkmal zwischen den Varianten einer Modellreihe, sondern die Softwareeinstellung. Reichweite, Motorleistung oder Schadstoffausstoß sind nicht länger Eigenschaften, die mit dem Produkt erworben werden, sondern zusätzliche Service-Leistungen. Willkommen im Zeitalter der Smart Services!

DIE SERVITIZATION DER INDUSTRIE

Diese Entwicklung betrifft nicht nur den Automobilsektor, sondern erfasst nahezu alle Branchen, von verbraucherorientierten Elektronikherstellern über Automobil-OEMs bis hin zum Maschinen- und Anlagenbau. Laut einer aktuellen ROI-Umfrage sind 83% der Unternehmen der Meinung, dass sich ihre Produkte digital erweitern lassen (vgl. DIALOG 50 und 57).

Die zunehmende Verschiebung von Erlöspotenzialen in Richtung von digitalen Zusatzleistungen setzt Hersteller klassischer Industriegüter dabei erheblich unter Druck. Zum einen, weil ihre Organisationen, Prozesse und Methoden bislang in der Regel nicht für die Dynamik und veränderten Zyklen digitaler Produkte und Services ausgelegt sind. Zum anderen, weil immer häufiger neue Wettbewerber auf den Plan treten, die ihren Ursprung nicht in der Manufaktur von Hardware haben, sondern über Software- oder Geschäftsmodell-Features versuchen, den Markt der angestammten Hersteller neu aufzurollen. Die Entwicklungsabteilung steht im Zentrum dieser Marktdynamiken: Einerseits als Impulsgeber bei der Identifikation von produktnahen Services für veränderte Kundenanforderungen. Andererseits als Enabler für neue Services und Geschäftsmodelle im Sinne einer schnellen und effizienten Umsetzung „from idea to market“. In der Praxis jedoch sind die meisten Entwicklungsabteilungen personell, prozessual und organisatorisch überhaupt nicht auf diese Anforderungen eingestellt.

Damit die Entwicklungsorganisation nicht zum Nadelöhr auf dem Weg zum Smart-Products-Anbieter wird, müssen Unternehmen ihre Prozesse an die Logik digitaler Produkte und Services anpassen. Das erfordert einen neuen, smarten Entwicklungsansatz, oder kurz: Smart R&D.

DIE SMARTE R&D-ORGANISATION

Dieser Entwicklungsansatz zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er radikal am Kunden und seinen Anforderungen an das Produkt ausgerichtet ist, welche in allen Phasen des Produktentstehungsprozesses in die Entwicklung einfließen können. Somit müssen die gesamte Organisation, die Prozesse, die Mitarbeiter und ihr Mindset so gestaltet sein, dass man zu jedem Zeitpunkt noch Kundenanforderungen einsteuern kann bzw. diese ändern kann. Das erfordert einerseits eine hohe Flexibilität bzw. Agilität in den Prozessen und Strukturen und andererseits die Fähigkeit und entsprechende Methodik, um solche Requirements schnell und effizient in funktionsfähige und testbare Lösungen zu überführen. Dafür müssen wesentliche Aspekte der Entwicklungsorganisation neu gedacht werden:

REQUIREMENTS ENGINEERING: VON DER PRODUKT- ZUR ÖKOSYSTEMPERSPEKTIVE

Henry Fords vielzitierter Aphorismus, wonach die Menschen, auf die Frage, was sie sich am meisten wünschten, mit „schnellere Pferde“ antworteten, fasst die Herausforderungen des modernen Anforderungsmanagements gut zusammen. Denn gerade im Kontext von Smart Products muss die Frage, was ein Produkt können soll, anders betrachtet werden, als es bei klassischen, industriell gefertigten Produkten lange Zeit der Fall war. Durch die Digitalisierung erweitert sich nämlich das Spektrum potenzieller Produktfunktionalitäten erheblich. Viele von ihnen ergeben sich dabei allerdings nicht direkt aus dem Kernprodukt selbst, sondern aus der Art, wie dieses in einem komplexen Ökosystem mit anderen Produkten oder Infrastrukturen interagiert. Etwa wenn Fahrzeuge untereinander oder mit der Verkehrsinfrastruktur kommunizieren, um das Unfallrisiko zu reduzieren. Diese (meist impliziten) Kundenanforderungen zu identifizieren, sie zu bewerten und in konkrete Funktionsumfänge umzuwandeln, ist die wesentliche Aufgabe des Requirements Engineering. Dabei gilt es, einerseits den gesamten Produktlebenszyklus zu betrachten und zu überlegen, wo eine zusätzliche Innovation in Form einer Software- Lösung oder eines Services sinnvoll eingebracht werden kann, und andererseits die äußeren Rahmenbedingungen, wie etwa Plattformen oder Betriebssysteme, zu berücksichtigen, auf die sie zugreifen. Die Entwicklungsorganisation muss daher nicht nur die eigenen Kunden, sondern auch andere Anbieter und deren Systeme im Blick haben. Diese Komplexität in konkrete Anforderungen herunterzubrechen, die verschiedenen Lebenszyklen der einzelnen Teillösungen zu synchronisieren und Schnittstellen zu definieren, sind Tätigkeiten, die wesentlich mehr Aufmerksamkeit erfordern als früher und in den klassischen Entwicklungsmodellen bislang kaum ausreichend abgebildet werden (siehe Abb. 1).

Um dem gerecht zu werden, setzen smarte Entwicklungsmodelle daher auf einen frühen und kontinuierlichen Dialog mit dem Kunden. Über Methoden wie Design Thinking wird dabei versucht, von Beginn an dessen Perspektive im Entwicklungsprozess zu berücksichtigen. Frühes und regelmäßiges Testing über Minimum Viable Products (MVPs) und schnelle Prototypisierung stellen zudem ein kontinuierliches Kundenfeedback über den gesamten Entwicklungsprozess hinweg sicher. Daneben stellt das Alignment mit der Unternehmensführung einen wesentlichen Erfolgsfaktor bei der Entwicklung von smarten Produktlösungen dar. Denn die Frage, welche Erlöse künftig mit dem Kernprodukt und welche mit produktnahen Services erzielt werden sollen, betrifft direkt die langfristige, strategische Ausrichtung des Unternehmens und sollte daher in eine übergeordnete Portfoliostrategie eingebunden sein, die auch von der Unternehmensführung getragen und konsequent unterstützt wird.

PROZESSE: VOM WASSERFALL- ZUM HYBRIDEN ENTWICKLUNGSMODELL

Durch zusätzliche Produktfunktionalitäten, vor allem im Software-Bereich, erhöht sich nicht nur der Entwicklungsaufwand, sondern es entstehen völlig neue Rollen und Aufgaben im Entwicklungsprozess, die in den Gesamtprozess integriert werden müssen. Insbesondere die Synchronisation der verschiedenen Funktionen in der Hard- und Software-Entwicklung, die jeweils über sehr unterschiedliche Entwicklungszyklen und Arbeitsweisen verfügen (siehe Abb. 3), stellt eine besondere Herausforderung bei der Entwicklung von smarten Produkten dar, für die die meisten Entwicklungsabteilungen nicht über geeignete Steuerungsmodelle verfügen. Hybride Entwicklungsmodelle wie das von ROI (Beitrag S.12) liefern hierbei einen Ansatz zur Integration von agilen Methoden mit der klassischen Stage-Gate-Vorgehensweise und schaffen dabei regelmäßige Interaktionspunkte mit den Kunden (siehe Abb. 2).

Neben der Steuerung auf Projektebene gilt es zudem, im Rahmen einer systematischen Portfoliosteuerung digitale Lösungen und ergänzende Serviceangebote über verschiedene Produktgruppen hinweg so modular aufzubauen, dass die internen Wertschöpfungsketten schlank gestaltet werden können.

ORGANISATION: VON DER PROJEKT- ZUR PRODUKTDENKE

Kaum eine Organisationseinheit im Unternehmen ist so massiven Veränderungen ausgesetzt wie die Entwicklungsabteilung. Denn die Ausweitung des Produktportfolios um smarte Produkte und Services führt nicht nur zu einem hohen Bedarf an neuen Fachkräften, sondern verändert auch die Art der Zusammenarbeit innerhalb der Entwicklungsorganisation. Während nämlich der Entwicklungsprozess früher mit dem Start der Produktion abgeschlossen war, werden smarte Produkte mithilfe von Updates und Funktionserweiterungen heute kontinuierlich weiterentwickelt. Diese Verschiebung des Produktentstehungsprozesses bis weit in die Marktphase hinein bedeutet für die Entwicklungsorganisation, dass ihre Kapazitäten länger als bisher an ein Produkt gebunden sind. Die klassische Projektorganisation, mit einem definierten Start- und Endpunkt lässt sich hierauf nicht mehr anwenden. Stattdessen müssen Entwicklungsabteilungen künftig ähnlich wie Software-Hersteller stärker in Produkten bzw. Produktgruppen und Releases denken. Dazu gehört auch, dass sich die Entwicklungsabteilung mit anderen indirekten Bereichen wie etwa dem Produktmanagement, der Instandhaltung oder dem Kundenservice vernetzen, um ein Produkt über dessen gesamte Lebensdauer hinweg zu begleiten und die Erkenntnisse aus den übrigen Bereichen in dessen Weiterentwicklung miteinfließen zu lassen.

ALLES AGIL?

Der steigende Software-Anteil in zahlreichen Industrieprodukten verändert somit bereits heute die Prozesse, Organisationen und Arbeitsweisen in der Entwicklungsorganisation. Viele dieser Anpassungen haben ihren Ursprung in den agilen Arbeitsweisen der Software-Entwicklung, die mittlerweile auch verstärkt in der Hardware-Entwicklung Einzug halten. Mit ihrer hohen Ergebnistransparenz und Flexibilität bieten sie in vielerlei Hinsicht das ideale Set-Up für eine smarte Produktentwicklung. Dennoch greift ein Ansatz, der ausschließlich auf Übernahme agiler Methoden abzielt, zu kurz.

Zum einen, weil sich ein smarter Entwicklungsprozess nicht auf einzelne Methoden wie SCRUM oder Kanban reduzieren lässt, die dessen Komplexität niemals vollständig abbilden können. Vielmehr geht es darum, dass die gesamte Organisation, die Prozesse, die Mitarbeiter und ihr Mindset so ausgerichtet sind, dass man zu jedem Zeitpunkt noch Kundenanforderungen einsteuern bzw. diese ändern kann. Zum anderen, weil bestimmte Elemente aus dem klassischen Hardware-Entwicklungsprozess, wie etwa Überprüfungen und Validierungen, auch weiterhin notwendig sein werden. Gerade diese Sicherheitsstufen sind Aspekte, in denen die Software-Entwicklung von der Hardware-Entwicklung lernen kann. Denn im Vergleich zu reinen Software-Produkten spielt die Einhaltung von Normen und Standards bei kombinierten Smart Products eine wesentlich größere Rolle – etwa wenn es um die Kombination von Hard- und Software im Bereich des autonomen Fahrens geht (siehe Abb. 2).

Und schließlich müssen Unternehmen darauf achten, ihre Mitarbeiter nicht zu überfordern. Denn häufig sind Hardware- Entwickler die hohe Frequenz und Ergebnistransparenz nicht gewohnt. Diese „Kulturunterschiede“ führen häufig zu einer erschrockenen Abwehr- oder Blockadehaltung. Führungskräfte sind daher gefordert, diesen Transformationsprozess in der Entwicklungsabteilung zu gestalten und konsequent zu begleiten, indem sie einerseits coachen und Ängste abbauen, aber andererseits auch mehr Autonomie in den Teams zulassen (vgl. Beitrag S. 24).

FAZIT

Unternehmen, die es schaffen, diese Spannungen zwischen alter und neuer R&D-Welt zu überwinden und die Kompetenzen aus dem Hard- und dem Software-Bereich bestmöglich zu kombinieren, haben hier sicherlich erhebliche Wettbewerbsvorteile. Eine agile Entwicklungsorganisation, die in der Lage ist, schnell und flexibel auf dynamische Kundenanforderungen zu reagieren, wird im Zeitalter smarter Produkte somit zum strategischen Erfolgsfaktor für den Eintritt in digitale Geschäftsmodelle. Wie schwierig sich dieser Prozess bisweilen gestaltet zeigt einmal mehr das Beispiel Tesla. Denn die Kalifornier scheitern regelmäßig an der Übertragung ihres „digital-centered Mindset“ auf die vermeintlich veralteten Strukturen des physischen Fahrzeugbaus, wie verzögerte Auslieferungen und ständige Qualitätsprobleme belegen.