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DIE DIGITALISIERUNG SCHAFFT FREIRÄUME UND STÄRKT DIE WETTBEWERBSFÄHIGKEIT

Betrachten wir das Thema Smart Factory und die Industrie 4.0 im Kontext der Prozessindustrien. Wo sehen Sie hier Handlungsbedarf? Und welche Versprechen kann die Smart Factory in der Prozessindustrie einlösen?

In der Prozessindustrie finden wir andere Rahmenbedingungen als in der diskreten Fertigung vor. So sind Konnektivität und Prozessüberwachung Standard. Die Abläufe in der Prozessindustrie lassen sich durchaus mit dem Umsetzen eines Kochrezepts vergleichen. Verschiedene Rohstoffe und Vorprodukte werden entweder sukzessive beigegeben oder in einem Satz zusammengemischt. Dieser Prozess wird durch SCADA-Systeme kontinuierlich überwacht. Die große Herausforderung in der Prozessindustrie liegt nicht darin, solche Systeme einzuführen und zu betreiben, sondern sie mit den Planungsprozessen, den Produktionsabläufen, -freigaben und -kontrollen zu integrieren. Die Konnektivität ist meistens gegeben. Nur wird sie nicht konsequent genutzt, um den Steuerungsprozess zu optimieren und zu vereinfachen. Oft fehlt die Verknüpfung zwischen den nachfolgenden Prozessen sowie zu den Planungsbereichen.

Welche Schritte sind vor diesem Hintergrund zu tun, um die Produktion wirklich smart zu machen?

Traceability ist ein entscheidender Aspekt – unabhängig davon, ob Schokolade, Whisky, Kosmetik, oder Medikamente produziert werden. Heute hat man vielfach die Situation, dass die Nachvollziehbarkeit und Kontrolle sich nicht automatisiert und ohne Medienbrüche herstellen lassen. Daten werden nach wie vor häufig von Bildschirmen manuell auf Zettel übernommen und anschließend in ein anderes System übertragen. Die damit verbundenenRisiken und Ineffizienzen sind umso größer, je dynamischer und kritischer ein Prozess ist. Das SCADA-System beinhaltet eigentlich alle relevanten Informationen. Aber die Schnittstellen bei Prozessen mit vielen Veredelungsstufen und mehreren beteiligten Systemen zerstören die Effizienz. Brüche zwischen Systemwelten sind leider in vielen Werken zu beobachten.

Warum gibt es auch nach Jahrzehnten keine Lösungen, um die Produktion umfassend und nachhaltig zu integrieren und transparent zu machen?

Es gibt durchaus Lösungen, etwa das Zusammenspiel von SCADA- und ERP-Systemen. Sie decken aber die Realität in der Fabrik nicht immer ab. Ein Beispiel: Der Mitarbeiter kann zentral hinterlegte Rezepturen automatisiert an der Anlage aufrufen und weiß, welche Materialien verwendet werden. Wenn er exakt nach Plan vorgeht ist das ausreichend. Wenn aber dieser Mitarbeiter über ein umfassendes Erfahrungswissen verfügt, was zum Beispiel bei der Herstellung edler Whisky- oder Rumsorten oft der Fall ist, wird er vielleicht die Rezeptur auf eigene Faust leicht modifizieren. Er schreibt dann vielleicht die Materialiennummern auf, welche er hinzugefügt hat. Aber nicht das veränderte Verhältnis. Jemand anderes trägt das dann irgendwann ins System ein – und hat nicht die gesamten Informationen. Die Rückverfolgbarkeit ist nicht gesichert. Generell spielt auch die Tatsache eine Rolle, dass manuelle Prozesse zwar aufwändig und teilweise fehleranfällig, aber eingespielt sind. „Never change a running system“ spielt eine gewisse Rolle. Aber das verändert sich zunehmend, die Vorteile integrierter, automatisierter Ansätze werden immer deutlicher.

Welche Potenziale bietet die Digitalisierung in der Prozessindustrie über das einzelne Werk hinaus, also mit Blick auf die Supply Chain?

Die Chancen liegen generell immer an den Schnittstellen in der Wertschöpfungskette. Dort, wo meine Prozesse und die Prozesse des Lieferanten ineinander greifen müssen. An diesen Stellen ist auch eine reibungslose und automatisierte Übergabe der Daten immens wichtig. Vor allem, wenn bestimmte Parameter wie Temperatur und Feuchtigkeit durchgehend und in Echtzeit überwacht werden müssen, aber auch wenn die Rückverfolgbarkeit wirklich lückenlos sein soll. Hier kann durch die Harmonisierung der Datensätze und dem automatischen Management der Schnittstellen ein großes Potenzial gehoben werden – im Hinblick auf Effizienz, Qualität und Compliance.

Greifen wir nochmal Ihr Beispiel von der Produktion hochwertiger Spirituosen auf. Die Transparenz, die durch eine vollständige digitale Erfassung von Abläufen entsteht, macht auch implizites Erfahrungswissen explizit. Damit wird die Position eines erfahrenen Destillationsmeisters geschwächt. Birgt diese Entwicklung Konfliktpotenziale und die Gefahr von Wissensverlusten?

Es kommt darauf an, wie man mit dieser Entwicklung umgeht. Ein Destillationsmeister hat eine hohe Expertise. Er versteht jedoch vielleicht nicht, warum nun plötzlich Prozessparameter hinsichtlich der Produktqualität durch Systeme überwacht und ausgewertet werden sollen.

Denn genau das ist seine Aufgabe – sogar seine Kunst! Er benutzt seine Sinne, um das Produkt zu prüfen. An dieser Stelle ist es wichtig zu zeigen, dass man nicht ersetzen, sondern helfen will. Denn was sind die Ziele der Digitalisierung in der Produktion? Den Prozess stabilisieren, schlechte Qualität vorhersagen, umfassend planen können. Die Daten nutzen, um zu verstehen, wann Abweichungen entstehen. Nicht nur Probleme lösen, sondern die Lösungsprozesse massiv beschleunigen und aus jedem solchen Prozess belastbares, verfügbares Wissen gewinnen, um immer besser und schneller und damit wettbewerbsfähiger zu werden. Man muss dafür sorgen, dass die Mitarbeiter sich auf das System verlassen können, um ihre Zeit, ihre Erfahrung und ihr Talent für hochwertige Tätigkeiten zu nutzen. Die Digitalisierung entmündigt nicht, sondern schafft kreative Freiräume und macht Unternehmen robuster. Die Herausforderung besteht darin, das auch klar und glaubhaft zu kommunizieren und für jeden Mitarbeiter die Vorteile aufzuzeigen. Das ist schon mit einem tiefgreifenden Wandel des Mindsets verbunden. Und es erfordert von allen Beteiligten viel Vertrauen und Wertschätzung.

Welchen Impact haben diese Veränderungen, hat die Digitalisierung, in der Prozessindustrie auf die Innovation und beispielsweise auf die Individualisierung von Produkten?

Die Individualisierung spielt in der Prozessindustrie keine so große Rolle wie in der diskreten Fertigung und ist eher ein Marketingthema. Aber man hat andere Möglichkeiten. So kann man den gesamten Prozess des Destillierens für den Kunden transparent machen, ich kann klar aufzeigen, welche Zutaten verwendet wurden und für den Kunden eine „Produktreise“ gestalten. Man kann die Zeit der Topexperten dafür nutzen, die Qualität kontinuierlich zu verbessern und neue Rezepturen in kreativen, aber datengestützten Prozessen zu entwickeln. Unsere Projekterfahrungen zeigen, dass die Menschen diesen Weg mitgehen. Wir erleben, dass für wirkliche Experten, die für ihren Beruf brennen, nicht das Herrschaftswissen im Vordergrund steht, sondern der Wunsch hervorragende Produkte zu kreieren, auf die sie stolz sein können.