AUF DER SUCHE NACH DEM "DEEP BLUE" MOMENT
WACHSENDE FUNKTIONSUMFÄNGE UND STEIGENDE VARIANTENVIELFALT HABEN DIE ENTWICKLUNG NEUER PRODUKTE KOMPLEXER UND AUFWENDIGER GEMACHT.
Gleichzeitig versprechen neue Technologien und Tools radikale Effizienzsprünge. Doch reichen diese aus, um die steigende Komplexität in der smarten Produktentwicklung beherrschbar zu machen? Und wo steht die Produktentwicklung aktuell beim Thema AI-enabled R&D?
In der Pharmakologie geht man davon aus, dass etwa 1.060 Moleküle mit einer biologischen Wirkung existieren. Um unter ihnen die chemischen Verbindungen zu ermitteln, die als Wirkstoffe zur Behandlung von Krankheiten wie Krebs oder Alzheimer infrage kommen, setzen immer mehr Pharmaunternehmen auf Smart Data Analytics und intelligente Algorithmen, die selbstständig Milliarden von möglichen Molekül- Varianten abgleichen. Die Zeit zur Identifikation potenzieller Wirkstoffe verringert sich dadurch von Jahren auf Stunden. Experten sprechen angesichts dieser Entwicklung bereits vom „Deep Blue“-Moment in der Pharmaforschung.
Die Suche nach Effizienzsteigerungen ist besonders wichtig in einer Branche, die ansonsten unter schlechten Forschungs-Statistiken leidet. Noch immer dauert es durchschnittlich zwölf Jahre und kostet zwei Milliarden Dollar, bis ein neues Medikament auf den Markt kommt. Auf dem Weg dorthin liegt die Durchfallquote in der präklinischen Phase bei 99%. Laut einer Studie aus dem Jahr 2017 sanken die prognostizierten Renditen für Investitionen in die Forschung und Entwicklung zu diesem Zeitpunkt auf den niedrigsten Stand seit acht Jahren, während die Ausgaben stiegen.
SMART PRODUCTS ALS KOMPLEXITÄTSTREIBER
Auch in anderen Branchen, wie etwa der Automobilindustrie oder dem Maschinenbau, steigen die Kosten für die Entwicklung von neuen Produkten seit Jahren konstant an. Die Gründe hierfür liegen vor allem im größeren Funktionsumfang und der zunehmenden Variantenvielfalt digital angereicherter Produkte, aber auch in komplexeren Abhängigkeiten mit äußeren Vorgaben, z.B. Regulatorik, global verteiltem Wettbewerb und Kunden mit häufig wechselndem Angebot und Bedürfnissen. Damit nimmt der Druck auf Unternehmen der produzierenden Industrie, in immer kürzeren Zyklen Produkt-Updates auf den Markt zu bringen, erheblich zu.
Um die daraus resultierende Komplexität beherrschbar zu machen, nutzen Unternehmen auch in diesen Branchen zunehmend neue Technologien und Methoden im Rahmen ihrer Produktentwicklung (vgl. Abb. 1). Sie setzen dort an, wo aufgrund der veränderten Anforderungen und Prozesse im Rahmen der digitalen Produktentwicklung kosten- und zeitintensive Aufwandstreiber entstanden sind, etwa an den Schnittstellen zwischen den verschiedenen am Entwicklungsprozess beteiligten Abteilungen oder der unterschiedlichen Relase-Taktung in der Hard- und Software-Entwicklung.
ANALYTICS FÜR BESSERE ENTSCHEIDUNGEN
Dies beginnt bereits bei der Konzeption eines neuen Produktportfolios. Unternehmen stehen hier vor der Herausforderung, dass die Bewertung von Kundenanforderungen und darauf basierenden Business Cases erheblich an Komplexität zugenommen hat. Zum einen, da „smarte Produkte“ über zusätzliche Komponenten (Software, Elektronik, Konnektivität etc.) verfügen, deren Entwicklungsaufwände und Herstellungskosten in die Gesamtbetrachtung miteinfließen und abteilungsübergreifend abgestimmt werden müssen. Zum anderen, weil die digital erweiterten Produkte nicht mehr nur bis zum Start of Production (SOP), sondern nahezu über ihren gesamten Lebenszyklus betrachtet werden müssen, so z.B. das gesamthafte Umsatzpotenzial. Neue Features und Erlösmöglichkeiten, um die das Produkt während des laufenden Betriebs erweitert wird, sind dabei ebenfalls zu berücksichtigen. Hinzu kommt, dass produktnahe Services i.d.R. anderen Erlösmechaniken folgen, für die in vielen Branchen noch keine Modellberechnungen existieren. Daraus ergibt sich ein komplexes System aus vielfältigen Querabhängigkeiten.
Dies führt dazu, dass die Explorationsdauer für Industrieprodukte, wie etwa Fahrzeuge, heute zwei bis drei Jahre beträgt. Um bei diesem Schnittstellen-Management zu besseren und vor allem schnelleren Entscheidungen zu gelangen, können Big Data Analytics bzw. Decision Analytics (vgl. Abb. 2) unter Zuhilfenahme von Künstlicher Intelligenz einen wichtigen Beitrag leisten. Voraussetzung dafür ist, dass der Gesamtprozess standardisiert und mit fundierten Daten und Modellen unterlegt ist. Dazu gehören eine Vielzahl unterschiedlicher Datenquellen, wie etwa Social Media Analytics, sowie aktuelle Nutzungs- oder Prognosedaten, die es in einem Datenmodell zu integrieren gilt. Auf diese Weise kann die Zeit zur Berechnung eines Gesamt-Business-Case auf ein Jahr oder gar weniger reduziert werden.
COMPUTER-AIDED R&D
Neben den Zeitverlusten an den Schnittstellen stellen die unterschiedlichen Taktungen in der Hard- und Software-Entwicklung eine weitere Herausforderung bei der Entwicklung von smarten Produkten dar. Um Verzögerungen zu vermeiden, indem etwa Hardware-Komponenten, auf denen eine Software-Funktion getestet werden soll, nicht rechtzeitig bereitstehen, können verschiedene Design- bzw. Konstruktionsmethoden eingesetzt werden, mit deren Hilfe sich die Zeit zur Bereitstellung von testbaren Prototypen deutlich verkürzen lässt. Einen besonders vielsprechenden Ansatz, der immer mehr an Bedeutung gewinnt, bildet das sog. Generative Design. Dabei handelt es sich um eine Design-Methode für Konstruktionen, bei der ein Software-Programm mithilfe von Algorithmen und logischen Kalkulationen selbständig Entwürfe generiert. Der Konstrukteur gibt lediglich die Planungsziele und Sachzwänge in ein CAD-Programm ein und legt Parameter, wie etwa Werkstoffart, Belastbarkeit und Kosten, fest. Das Programm errechnet daraufhin tausende verschiedene Varianten, mit denen die vorgegebenen Parameter erfüllt werden, und führt selbstständig eine Leistungsanalyse durch. Dadurch verkürzt sich die Konstruktionszeit um ein Vielfaches, da Entwürfe nicht mehr manuell durchgeführt werden müssen und die Simulationen sowie Tests bereits in das Entwurfsverfahren integriert sind. Zudem ermöglicht dieses Verfahren die Erstellung völlig neuer Geometrien mit verbesserten Eigenschaften, welche teilweise der Konstrukteursintuition zu widersprechen scheinen.
MIT LERNENDEN SYSTEMEN ENTWICKLUNGSSCHLEIFEN ELIMINIEREN
Ein anderer Weg, um die Entwicklungszeit bei Hardware-Komponenten zu verkürzen, ist der Einsatz von selbstlernenden Systemen. Durch sie lassen sich teure und aufwändige Optimierungsschleifen bei der nachträglichen Anpassung von Bauteilen deutlich reduzieren. Gerade hier treten in der Praxis oft hohe Kosten und Zeitverluste auf, etwa wenn spezielle Werkzeuge benötigt werden.
Um diese Art der Verschwendung zu minimieren, setzen Unternehmen beispielsweise eine Kombination aus Simulation und 3D-Druck-Verfahren ein. Letzteres ermöglicht eine schnelle Prototypisierung der Bauteile. Statt also bei jeder Optimierungsschleife die Komponenten komplett neu zu fertigen, werden mittels Additive Manufacturing Prototypen erzeugt, deren Eigenschaften wiederum an das digitale Modell zurückgespielt werden. Aus dem Abgleich zwischen Prototyp und digitalem Modell lernt das System in jeder Schleife, wie das beste Modell gestaltet sein muss, um sozusagen die reelle Fertigung im Vergleich dazu, wie sie digital vorhanden ist, abzubilden. Mithilfe dieses semiintelligenten lernenden Systems konnte die Entwicklungszeit von entsprechenden Bauteilen erheblich reduziert, teilweise mehr als halbiert werden.
INTELLIGENTES MANAGEMENT DES SYSTEMLEBENSZYKLUS
Zusätzlich zu den Optimierungen in den einzelnen Phasen besteht die größte Herausforderung bei der Entwicklung smarter Produkte darin, die unterschiedlichen Schnittstellen, funktionalen und prozessualen Abhängigkeiten in einem Gesamtmodell abzubilden. Genau hier knüpfen Ansätze wie Model-based Systems Engineering (MBSE) oder System Lifecycle Management (SysLM) an, indem sie gewissermaßen eine Entwicklungsplattform bereitstellen, die in der Lage ist, die Auswirkungen von einzelnen Parametern, wie z.B. einem Software-Feature, im Gesamtsystem aufzuzeigen. Aufgrund der Vielzahl an möglichen Variationen und Schnittstellen in der Hard- und Software ist das vom Menschen i.d.R. nicht zu leisten. Daher birgt der Einsatz von Künstlicher Intelligenz gerade hier enorme Potenziale.
Nur wenn Entwicklungssysteme in der Lage sind, diese Komplexität nicht nur abzubilden, sondern auch handhabbar zu machen, ist eine kontinuierliche Produktentwicklung, die über den Start of Production (SoP) hinausgeht und bspw. Nutzerdaten aus Digitalen Zwillingen in die kontinuierliche Weiterentwicklung von Produkten in der laufenden Nutzung einfließen lässt, umsetzbar. Aktuell scheitert diese Vision in vielen Fällen noch an der IT-Infrastruktur und der Durchgängigkeit von den diversen, vernetzten und abhängigen Tools und Systemen (z.B. PDM/PLM und ERP). Insbesondere die Harmonisierung der Schnittstellen ist eine notwendige Grundlage, welche wiederum eines intelligenten, abgestimmten Designs der zugehörigen Prozesse bedarf, jedoch alles andere als trivial ist.
Mit anderen Worten: DIE INDUSTRIELLE PRODUKTENTWICKLUNG WARTET AUF IHREN „DEEP BLUE“-MOMENT.