Kapitel 9
Sattel-Hochstuckli, Schweiz
Das Pistenwunder
Unser Weg führt uns von Zell am See in das ebenfalls alpine Gebiet Sattel-Hochstuckli in der Schweiz. Nach schweren Bergbaufahrzeugen und riesigen Landmaschinen treffen wir nun auf einen weiteren Traum kleiner und großer Jungs: die PistenBullys von Kässbohrer. Wie in unzähligen anderen Schneegebieten Europas sorgen die mächtigen Raupenfahrzeuge hier für eine perfekte Schneedecke. In den vergangenen Jahren hat Kässbohrer mit dem Pistenmanagement-System SNOWsat eine Lösung geschaffen, die alle in einem Skigebiet eingesetzten PistenBullys in einen Schwarm intelligenter Smart Products verwandelt. Basierend auf einem hochkomplexen digitalen Geländemodell und einem satellitenbasierten Kommunikationssystem wissen sowohl die Einsatzzentrale als auch die Bully-Fahrer zentimetergenau, wo die Einsatzfahrzeuge der Flotte unterwegs sind und wieviel Schnee sich unter den Raupen befindet, und können somit ihre Routen selbst bei schwieriger Topographie perfekt planen. Hohe Sicherheit, Effizienz und Kostenersparnis durch Optimierung von Betrieb, Kraftstoffverbrauch und Beschneiung sind die Vorteile, von denen Fahrer, Flottenchefs und Betriebsleiter unmittelbar profitieren.
SNOWsat-System ist ein Paradebeispiel dafür, wie ein klassisches Produkt – der PistenBully – zu einem smarten Produkt wird. Doch wie geht ein solcher Wandel vonstatten? Und was war der Initialimpuls für die Entwicklung des Systems? Jens Rottmair, Vorstandsprecher der Kässbohrer Geländefahrzeug AG, sieht den Ausgangspunkt bei der Kundensituation: „Immer mehr Skigebiete sind mit hochwertigen Beschneiungsanlagen ausgestattet. In vielen Kundengesprächen kam immer wieder die Frage, wie man professionelles Snow-Management betreiben kann, also die Kombination aus technisch produziertem Schnee und der sinnvollen Verteilung auf den Pisten. So entstand vor bereits gut sieben Jahren die Idee, ein praktikables Tool anzubieten. Erst noch auf Radarbasis, mittlerweile seit vier Jahren über GPS und Glonass.“ Der Geschäftsbereich, der als "One Man Show" startete, beschäftigt heute 20 Mitarbeiter. Inzwischen sei man weltweiter Marktführer, sagt Rottmair und verweist auf die Entwicklung der Navigationsgeräte im Auto.
Der intelligente PistenBully ist aber auch ein gutes Beispiel für den Netzwerkeffekt der Smart Economy: SNOWsat vernetzt die im Einsatz befindlichen Fahrzeuge, die Basisstation (als Verbindung zwischen den Fahrzeugen und den Navigationssatelliten) und das Front End für die Benutzer. Wie wichtig ist systemisches Denken für die digitale Transformation?
Rottmair erzählt, dass SNOWsat am Anfang nur für den PistenBully vorgesehen war. Doch mittlerweile könne Kässbohrer es auch in Wettbewerbsfahrzeugen installieren. „Das war der Beginn eines offenen Systems“, sagt Rottmair. „Viele Skigebiete verfügen über exakte GIS Daten, bieten WLAN und andere Informationssysteme an. Liftmasten, Standorte von Schneekanonen, Schächte, Leitungen – das alles ist heute digital erfasst. Und mit unserer Software sind wir imstande, exakte Daten an die Beschneiungssysteme zu liefern. So kann man gezielt dort Schnee produzieren, wo er notwendig ist. Wir können aber auch den Skigast darüber informieren, wo welche Pisten präpariert sind und wie die Schneelage ist. Wir können Daten über gesperrte Pisten elektronisch liefern. Und wir denken weiter darüber nach, welchen weiteren Nutzen wir unseren Kunden bieten können. Wir denken in der Tat in offenen Systemen. Schließlich wollen wir zufriedene Gäste in den Skigebieten, die neben einer perfekt präparierten Piste auch die für sie interessanten und wichtigen Infos erhalten können.“
Die neuen Szenarien, die durch SNOWsat möglich werden, führen uns zu einem Thema, das uns während der Reise immer wieder beschäftigt hat: Welche Auswirkungen hat die Einführung eines Systems wie SNOWsat auf die Definition der Kernkompetenzen und die Kultur eines Unternehmens wie Kässbohrer? Wir nutzen das Gespräch mit Jens Rottmair, um dieser Frage nachzuforschen.
„Unsere Kernkompetenz bleibt der Fahrzeugbau. Wir sind mit der Hardware groß geworden und werden auch zukünftig neben dem PistenBully mit einem weiteren Fahrzeugtyp, der nicht auf der Skipiste eingesetzt wird, unsere Strategie fortführen. Ziel ist hierbei ganz klar, die Abhängigkeit vom Wintergeschäft zu reduzieren“, stellt Rottmair fest. „Was die Kultur betrifft, so hat es doch eine gewisse Zeit gedauert, bis ein solches neues Produkt auch im Unternehmen akzeptiert war. Aber das ist ganz normal, denke ich. Heute ist SNOWsat ein Teil unserer täglichen Arbeit und wird von allen Mitarbeitern genauso geschätzt wie von unseren Kunden.“
Aber kann Software genauso begeistern und emotionalisieren wie Hardware? Das hänge davon ab, wie gut das System funktioniere, sagt Rottmair. Und dies sei bei SNOWsat der Fall: Das Produkt sei im Skigebiet vernetzt, funktioniert per Funk, per GSM, die Fahrzeuge kommunizieren im Skigebiet in Echtzeit untereinander. Web-Applikationen und jede Menge an Daten stehen dem Kunden ebenso zur Verfügung wie die exakte Messung der Schneehöhe, mit einer Abweichung von höchstens 3 Zentimetern. „Von daher weckt auch Software Emotionen“, ist Rottmair überzeugt.
Mag schon sein, geht uns durch den Kopf. Doch selbst die beste Software hat keine Raupen. Wir werfen einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die PistenBullys und machen uns auf den Weg ins Tal und in Richtung München.