CHINA ODER OSTEUROPA?
Richtige Antwort auf eine falsche Frage
Komplexität bedeutet, mit einer Vielzahl von Faktoren und Interdependenzen sowie einer hohen Veränderungsdynamik konfrontiert zu sein. Dafür gibt es wohl kaum bessere Beispiele als die Globalisierung der Wertschöpfung. So stellen sich bei der Beurteilung von Sourcing- und Produktionsstandorten in beispielsweise China oder Osteuropa Fragen nach ihren Potenzialen und Risiken sowie rechtlichen und steuerlichen Rahmenbedingungen. Auch Aspekte wie Transport- und Personalkosten, Qualifizierungslücken, Zulieferstrukturen, Rohstoffverfügbarkeiten, kulturelle Unterschiede, konjunkturelle Aussichten sowie der Schutz des intellektuellen Kapitals müssen bedacht werden. Komplex genug? Mitnichten. Denn die Entscheidung, ob man schlussendlich in China oder Osteuropa entwickelt und produziert, stellt sich gar nicht. Die Frage dreht sich um das effizienteste Zusammenspiel der Regionen in einem globalen Entwicklungs- und Produktionsnetzwerk. Steht keine ‚Entweder-oder-Option‘ zur Verfügung, steigt die Entscheidungskomplexität enorm.
„China hat seine größten Probleme in Angriff genommen. Dennoch bleiben wesentliche Fragen bis heute ungelöst – und es kommen neue dazu.“
Wie steht es um Chinas Attraktivität als Wertschöpfungsstandort? Die Volksrepublik ist nach wie vor eine Region mit ansehnlichen Lohnkostenvorteilen, günstigen Engineering-Kapazitäten und dem weltgrößten Zulieferernetzwerk. Hinzu kommt die Nähe zu den wichtigsten Rohstoffen. Darüber hinaus ist China als Absatzmarkt der Zukunft ebenso wie als Scharnier zu weiteren südostasiatischen Märkten von herausragender Bedeutung. Mittelfristig ist mit einer Reduktion der Transport- und Logistikkosten zu rechnen, etwa durch den weiteren Ausbau der Verkehrsinfrastruktur. Auch hat China seine größten Probleme – den laxen IP-Schutz und die gravierende Umweltverschmutzung – in Angriff genommen.
Doch gleichzeitig bleiben wesentliche Fragen ungelöst. Hierzu zählen der nach wie vor sehr hohe Managementaufwand, gravierende Schwierigkeiten bei der Qualitätssicherung komplexer Erzeugnisse und Prozesse sowie die schleichende Aufwertung der chinesischen Währung. Zudem erodiert der bislang wichtigste Vorteil Chinas: die niedrigen Arbeitskosten. In den vergangenen Jahren sind die Löhne um bis zu 20 Prozent jährlich gestiegen und auch mittelfristig ist mit zweistelligen Steigerungen zu rechnen. Die Lohnexplosion trifft dabei vor allem die hochqualifizierten Stellen sowie die küstennahen und gut erschlossenen Regionen, auf die westliche Unternehmen bislang gesetzt haben. Ein Kernproblem bleibt die zunehmende Volatilität der globalen Nachfrage. Aufgrund komplexer Logistikstrukturen und langen Transportzeiten aus China sind diese Schwankungen nur mit hohen Kosten abzufangen.
„Geografische und kulturelle Nähe und ein gutes Qualifikationsniveau sind typisch für Osteuropa. Dennoch prägen eher Unterschiede als Gemeinsamkeiten die Region.“
Ist Osteuropa die Alternative? Aber welches Osteuropa? Das Pro Kopf-BIP Sloweniens ist zehnmal höher als das Moldawiens, das Antikorruptionsranking Polens doppelt so hoch wie das Serbiens, die Arbeitskosten Tschechiens sind doppelt so hoch wie die Rumäniens. Während Estland und Lettland als vorbildliche Demokratien gelten, rangieren Weißrussland und die Ukraine im Hinblick auf politische Freiheit und Bürgerrechte auf einer Ebene mit Bangladesch oder Thailand. Und die Region driftet weiter auseinander, aufgrund sehr unterschiedlicher wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen. Die Hoffnung auf die Entstehung langfristig stabiler und liquider Absatzmärkte und einer kaufkräftigen Mittelschicht hat sich in vielen Ländern bei weitem nicht erfüllt. Dennoch sind aus westeuropäischer Sicht die geografische und kulturelle Nähe zentrale Faktoren, um Osteuropa eine strategische Rolle in globalen Wertschöpfungsnetzwerken einzuräumen. Nicht zuletzt, weil die Region von einer teilweise überproportionalen Wachstumsdynamik profitiert und bereits heute als wichtigster Handelspartner Westeuropas den größten Anteil der Direktinvestitionen anzieht – gefolgt von China.
Die wichtigsten Faktoren für die Attraktivität Osteuropas sind das nach wie vor moderate Lohnniveau, die hohen Ausbildungsstandards und eine zunehmende Produktivität. Verbunden mit geringeren Logistik- und Managementkosten bieten osteuropäische Standorte heute bessere Rahmenbedingungen für den Aufbau adaptiver Produktionsnetzwerke und können kleine Losgrößen, Nachfrageschwankungen und Konstruktionswechsel effektiver bewältigen als chinesische Standorte. In den letzten Jahren zeichnet sich jedoch ein Wandel ab, denn die Lohnkosten steigen überproportional schnell. Eine Entwicklung, die sich zusätzlich durch drohenden Fachkräftemangel gerade an den bevorzugten Sourcing- und Produktionsstandorten beschleunigt.
Vor diesem Hintergrund ist ‚China oder Osteuropa?‘ die falsche Frage – beide Regionen sind integrale Bestandteile einer an langfristiger Peformance, Wettbewerbsfähigkeit und Wertsteigerung orientierten globalen Footprint-Strategie, die das Zusammenspiel der Standorte genau austarieren muss. Als Handels- und Wertschöpfungspartner, Absatzmarkt der Zukunft und Motor für eine strategische und kulturelle Perspektivenerweiterung sind beide Regionen unverzichtbar. Dabei sollten Westeuropäer nicht zu lange warten, denn Containerschiffe mit Rohstoffen und Vorprodukten aus China, die Danzig oder Koper anlaufen, um Werke in Osteuropa zu beliefern, könnten bald Standard sein. Doch in wessen Auftrag werden sie kreuzen? Beide Regionen sind sich ihrer strategischen Bedeutung in globalen Netzwerken bewusst. Sie arbeiten bereits daran, ihre Rollen darin neu zu definieren, als aktive Player, die der Globalisierung ihren eigenen Footprint aufdrücken. China setzt verstärkt auf einen direkten Verbund mit den ost- und mitteleuropäischen Ländern, was durch die Ende letzten Jahres erfolgte Gründung eines Kooperationssekretariats unterstrichen wurde. Die noch schwachen direkten Handelsbeziehungen sollen systematisch ausgebaut und vertieft werden, unter Zuhilfenahme chinesischer Investitions- und Förderbudgets. Die Osteuropäer, zunehmend auch Russland, sehen wiederum in China einen Markt für ihre Industrien, der von deutlich geringeren Zugangsbarrieren umgeben ist als die Heimatmärkte des Westens.
Westliche Unternehmen, die nicht lediglich Zuschauer dieser Prozesse sein wollen, müssen sich der Komplexität stellen. Sie sind gut beraten, eine Strategie zu wählen, in der die jeweiligen Vorteile Chinas und Osteuropas optimal ausbalanciert und die künftigen Beziehungen der Regionen berücksichtigt sind. ‚Entwederoder‘ ist mit Sicherheit kein zukunftsfähiger Ansatz.
„Beide Regionen sind sich ihrer strategischen Bedeutung in globalen Netzwerken bewusst – und arbeiten daran, ihre Rolle als aktive Player neu zu definieren.“