Adapt or Die
Adaptionsfähigkeit globaler Produktionsnetzwerke wird zum Überlebenskriterium – nur wenige Unternehmen sind bislang dafür gerüstet.
Das Jahr 2006 beendete in Japan eine Epoche. Kongõ Gumi, ein auf Burgen- und Tempelbau spezialisierter Familienbetrieb, wurde wegen Überschuldung abgewickelt – nach 1428 Jahren stolzer Geschichte. Dagegen sind der ebenfalls japanische Handelskonzern Okaya, gegründet 1669, die für ihre Angelhacken bekannte französische Holding Viellard Migeon, gegründet 1679, der Spirituosenvertreiber Schwarze & Schlichte aus Westfalen, gegründet 1665, geradezu jung.
Jenseits ökologischer Nischen – statischer, innovationsarmer und lokaler Märkte, wo Wachstum kein Imperativ ist – gelten allerdings andere Gesetze: Die durchschnittliche Lebenserwartung bei großen Unternehmen liegt heute zwischen 40 und 50 Jahren, Tendenz sei Jahrzehnten fallend. Fast alle von ihnen vertrauen auf bewährte Methoden und über Jahre erfolgreiche Strategien und verlieren früher oder später ihre Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit, ihre Sensitivität für die sich verändernden externen Bedingungen. Dafür bekommen sie früher oder später unweigerlich die Quittung: Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Wie Kongõ Gumi.
Die beispiellose ökonomische, geopolitische und ökologische Dynamik und die extreme Volatilität der Märkte werden deshalb runde Unternehmensgeburtstage in den kommenden Jahren zu einer recht unwahrscheinlichen Veranstaltung machen: Yale-Professor Richard N. Foster schätzt, dass im Jahr 2020 mehr als Dreiviertel der im S&P 500 Index erfassten Konzerne heute noch völlig unbekannt sind. Sollte diese Prognose auch nur ansatzweise stimmen, heißt das für viele der heute gefeierten Champions: Game over.
Wer beim Massensterben nicht mitmachen will, sollte sich nicht auf die stolze Erfolgsgeschichte und glänzende KPIs verlassen, sondern intensiv an seiner Fitness arbeiten, um flexibel, innovativ und adaptiv zu bleiben. Besonders schwer und besonders kritisch ist diese Aufgabe dann, wenn komplexe Produktionsnetzwerke und kapitalintensive Innovationsprozesse eine Branche prägen – sie machen es äußerst anspruchsvoll, mit den Märkten zu atmen. Die Sicherung der Adaptionsfähigkeit ist deshalb gerade in der produzierenden Industrie keine Frage von Wettbewerbsfähigkeit, EBIT-Marge, oder Kundenzufriedenheit. Sie ist eine Frage des Überlebens, die heute akuter ist als in den vergangenen Jahrzehnten.
„Die Sicherung der Adaptionsfähigkeit ist in der produzierenden Industrie keine Frage von Wettbewerbsfähigkeit, Marge oder Kundenzufriedenheit. Sie ist eine Frage des Überlebens.“
Wie steht es heute um diese lebensnotwendige Adaptivität? Das Zeugnis fällt durchwachsen aus. So werden zwar die bekannten Ansätze zur Produktionsoptimierung wie Kaizen, JIS/JIT, oder Wertstrom breitflächig genutzt. Ihre Wirkungbleibt jedoch meistens begrenzt: Ein Großteil der Initiativen hat lediglich Projektcharakter, wird standortspezifisch ausgelegt und sichert keine durchgängige Implementierung. Vor allem fassen diese Ansätze die Flexibilisierung der Prozesse und Strukturen lediglich als qualitatives Nebenziel auf.
Die Fähigkeiten der Organisation, den gesamten, häufig globalen, Werksverbund auf hohe Volatilität und geringe Prognostizierbarkeit einzustellen, schnelle Shifts innerhalb des Netzwerks zu machen und auf konjunkturelle Ausschläge zu reagieren, werden damit nicht nachhaltig verbessert. Adaptivität sieht anders aus als das Bild, das die industrielle Landschaft heute in weiten Teilen bietet. Eine noch konsequentere, noch umfassendere und noch differenziertere Anwendung klassischer Modelle wird nicht reichen, wenn man sich nicht zu Kongõ Gumi in den Unternehmenshimmel gesellen will. Um mit dem Organisationsforscher Karl Weick zu sprechen: „Simply pushing harder within the old boundaries will not do“.
Dringend notwendig ist deshalb eine integrierte Systemgestaltung, die den gesamten globalen Produktionsverband und seine umfassende Flexibilität und Reaktionsfähigkeit im Blick hat. Das bedeutet, auf Basis stabiler Prozesse sowohl die Umsetzung strategischer Ziele und die globale Flexibilität abzusichern, als auch das professionelle Management der einzelnen Standorte und der lokalen Flexibilität zu ermöglichen. Kurz, Produktionsverbände für das Zeitalter der Volatilität fit zu machen.
„Adaptivität sieht anders aus als das Bild, das die industrielle Landschaft heute in weiten Teilen bietet. Eine noch konsequentere, noch umfassendere und noch differenziertere Anwendung klassischer Modelle ist nicht genug.“
Das sind die Voraussetzungen, unter denen ROI das Modell des ‚Adaptiven Produktions-Systems‘ (APS) entwickelt hat. Dieses Modell, das wir in den letzten beiden Ausgaben des Dialogs ausführlich vorgestellt haben, basiert auf vier Säulen:
Dem Manufactoring Footprint, der einen klar strukturierten Masterplan für den gesamten Werkverbund liefert; der Flexibilisierung der Prozesse und Strukturen in den einzelnen Werken; der Flexibilisierung der Arbeitsmodelle und Erhöhung der ‚Flexibility Skills‘ der Mitarbeiter; der Integration der Zulieferer und Erhöhung der Flexibilität und Koordination in der gesamten Wertschöpfungskette.
Adaptive Produktionssysteme sind damit weit mehr, als ‚pushing within the old boundaries‘. Sie sind es zum einen deshalb, weil sie die Topologie der industriellen Produktion tiefgreifend verändern. Setzt man die Flexibilität eines Produktionsverbandes als oberste Maxime, wandeln sich die Kriterien, nach denen Standort- oder Investitionsentscheidungen getroffen werden. Sie sind es zum anderen, weil auch die Philosophie der Produktion, falls es so etwas geben sollte, in volatilen Märkten eine andere ist: Ihre Prämisse ist nicht die Gewissheit, sondern die Unsicherheit der Zukunft und der Anspruch, für diese Unsicherheit bestmöglich gerüstet zu sein.
„Adaptive Produktionssysteme sind mehr, als ‚pushing within the old boundaries’. Sie verändern die Topologie der industriellen Produktion und ihre Philosophie.“