„Die Zukünfte von gestern ragen in unsere Gegenwart hinein“
Gespräch mit Sebastian Pirling, Lektor des Science-Fiction-Programms des Heyne Verlags
DIALOG: Herr Pirling, wenn in der modernen Science-Fiction-Literatur Technologie und Ökologie aufeinandertreffen, haben wir es fast immer mit dystopischen Szenarien zu tun. Woher rührt dieser Pessimismus?
SP: Ich glaube, diese Frage zielt ziemlich in das Herz dessen, was die Science-Fiction in den letzten Jahrzehnten getan hat, nämlich ausgehend von dem Bild, das wir gerade von unserer Gegenwart haben, größere Kreise zu ziehen. Von diesem Punkt aus richtet sich der reflektierende Blick wieder auf die Gegenwart und darauf, wie die Menschen mit ihrer Lebensweise und Technologie auf die Welt zugreifen. Hier lässt sich in der Tat ein gewisser Pessimismus, eine Ernüchterung beobachten. Ich glaube, dass diese Tendenz eingebettet ist in einen bestimmten Zeitgeist. Mit dem Beginn des Atomzeitalters wurde es möglich, bis ins innerste Gefüge der Materie einzugreifen und sie sich im Wortsinn gefügig zu machen. Gleichzeitig ging mit der Entwicklung der Atombombe eine Art großes Erschauern einher. Die Fortschrittseuphorie, die zuvor unser Streben wie selbstverständlich bestimmte, ist uns seitdem abhandengekommen. Es stellen sich neue Fragen: Was ist Fortschritt? Ist das die Sorte Fortschritt, die wir wollen? Was tun wir mit der Umwelt? Was tun wir miteinander? Was tun wir mit der Technologie? Das zieht sich durch viele Themen, wie Künstliche Intelligenz, Umwelttechnologien, Energiewirtschaft und so weiter. Dort, wo Technologie, Wirtschaft und Politik als Zukunft gedacht werden, sehen wir diese Ernüchterung. Das erscheint mir als grundlegend, als eine Art dominierendes Paradigma.
DIALOG: Je besser wir durch Technologie die Welt verstehen, desto stärker wird unser Gefühl dafür, dass Dinge verbunden sind und das, was wir heute tun, morgen einen globalen Impact hat. Von der Technologie über die Gesetzgebung bis hin in neue Strömungen der Philosophie gibt es den Versuch, die großen ökologischen Zusammenhänge und Wechselwirkungen zu begreifen.
Auch die Science-Fiction ist Teil dieser Entwicklung. War früher ein Mondflug einfach ein Mondflug, rücken zunehmend ökologische Perspektiven in den Fokus – das Bewusstsein, dass alles, was wir tun, Konsequenzen hat, dass es kein Entkommen von den Konsequenzen unseres Handelns gibt. Führt auch diese Veränderung zu einem dystopischen Gesamtbild?
SP: Den Gedanken der Vernetztheit würde ich absolut unterstreichen. Das zwingt eben auch zu einem sehr viel komplexeren und konkreteren Erzählen, zu einem stärkeren Nachdenken darüber, wie es ist, tatsächlich heute hier zu sein. Das kann man z.B. sehr gut an einem Autor wie Kim Stanley Robinson festmachen. Er wurde sehr bekannt mit seiner Mars-Trilogie. Darin zeichnet er ein großes Panoramabild der Mars-Besiedelung, inklusive Terraforming und Geo-Engineering – große Würfe. Doch inzwischen bewegen sich Robinsons Bücher weg von fernen Welten und immer dichter an unsere Erde heran.
In seinem letzten Buch, „Das Ministerium für die Zukunft“, schreibt er eine Geschichte der nahen Zukunft, in der der Umweltkollaps eingetreten ist. Sie beginnt mit einer Szene, in der in einem Dorf in Indien die Temperaturen in einem Sommer auf einmal so hoch steigen, dass nur einige wenige Menschen, die sich in einen nahegelegenen See retten, überleben. Von diesem Punkt aus denkt er sehr konkret darüber nach, wie eine Welt aussehen kann, in der die schlimmsten Prognosen eingetreten sind.
Die Erkenntnis, dass es keinen Plan B für die Menschheit gibt, ist eine große Strömung in der aktuellen Genreliteratur. Es ist ein Abschied vom Frontier-Konzept, von der Idee, dass wir einfach immer mehr Räume erobern müssen – bis in die Galaxien hinaus. Nun hält man inne und erkennt, dass wir uns selbst immer mitnehmen. Und dass wir unsere Probleme hier und heute lösen müssen. Und dieses Innehalten zeigt sich auch in Science-Fiction-Entwürfen, die sehr nahe an unsere ökologische, politische und technologische Gegenwart heranrücken.
DIALOG: Lassen Sie uns diesen Gedanken weiterführen. Es gibt eine ganze Reihe neuerer Science-Fiction-Erzählungen, die entweder mit Technologien operieren, die bereits da sind – wie in den Romanen von Daniel Suarez oder Andy Weir –, oder die sich verstärkt ökonomischen Themen zuwenden. Hier lässt sich eine Linie zwischen Robert Heinleins sehr spekulativer Geschichte „Der Mann, der den Mond verkaufte“ von 1950 und Richard Morgans sehr konkretem Roman „Profit“ von 2004 ziehen. Was macht die Gegenwart plötzlich als Science-Fiction-Szenario erzählbar?
SP: Die Zukünfte von gestern ragen immer stärker in unsere Gegenwart hinein. Ich beobachte, dass sich deshalb auch im Genre das Gefühl ausbreitet, dass uns die Zukunftsräume ausgehen. Die letzte große Raumeroberung in der Science-Fiction war vielleicht der Cyberspace in den 1980er Jahren. Und dieser Raum war uns bereits so nahe, dass die Fiktion die Gegenwart und die Technologie stark geprägt hat. Von William Gibsons „Neuromancer“ zu Ronald Reagans Cyber-Sicherheitsprogramm und dem kommerziellen Metaverse ist eine Einflusslinie klar erkennbar.
Aber wo sind heute die Räume? Die Künstliche Intelligenz war Gegenstand vieler Science-Fiction-Entwürfe, wie etwa der Kurzgeschichte „Die Maschine steht still“ von E. M. Forster, die vor über 100 Jahren geschrieben wurde. Nun haben wir ChatGPT. Die Zukunft als Raum der Träume wird uns also ein Stück weit aus der Hand genommen. Wir müssen nur um die Ecke gehen und dann wartet da ein Raum auf uns, den wir noch gar nicht richtig verstehen, aber in dem man schon Buttons drücken kann. Das scheint mir ein wichtiger Grund dafür zu sein, dass Geschichten an unser Hier und Jetzt heranrücken.
DIALOG: In der Science-Fiction ist der Glaube an die Zukunftsfähigkeit der Demokratie gering. Es gibt kaum eine Zukunftswelt, die nicht aristokratisch regiert wird oder unter dem Diktat globaler Konzerne, technizistischer Verwalter oder faschistoider Regime steht. Zugleich korrelieren in den Erzählungen häufig ökologische und politische Dystopien. Wie erklären Sie diese erschütternd pessimistische Perspektive?
SP: Sie ist zum Teil in den erzählerischen Strukturen begründet. Die Demokratie ist sehr gegenwärtig und gleichzeitig immer ein Balanceakt. Und Science-Fiction versucht meist auszumalen, wie es ist, wenn die Gegenwart in eine Krise gerät und wir von der einen oder anderen Seite vom Pferd herunterrutschen. Das führt schnell zu sehr düsteren Entwürfen. Die Demokratie, als ein wesentlicher Aspekt zumindest der westlichen Realität, gerät dabei oft in Bedrängnis.
Aber es gibt auch durchaus Strömungen, die versuchen, sich aus diesem dystopischen Sog zu befreien. Sie sind geleitet von der Idee, dass wir unsere Demokratie als Gegenwartsaufgabe weiterdenken müssen und bei der Erkenntnis unserer ernsten Lage nicht stehen bleiben dürfen. Dabei werden übrigens auch die Genregrenzen offener: einerseits in Richtung Fantasy und klassischer Märchen und andererseits auch in Richtung wissenschaftlich fundierter Szenarien.
DIALOG: Lassen Sie uns diese Grenzöffnung näher betrachten. Wir erleben, dass technologische, aber auch gesellschaftliche Veränderungen so schnell passieren, dass die Grenze zwischen heute und morgen verwischt – es entsteht eine neuartige Übergangszone, in der sich spekulatives Erzählen, strategisches Management, philosophische und wissenschaftliche Analysen treffen.
Und wir sehen, dass man globale Herausforderungen, die in dieser Zone liegen, mit unserer funktional ausdifferenzierten Herangehensweise nicht gut bearbeiten, ja, nicht einmal gut beschreiben kann. Liegt darin das neue Interesse der Entscheider in Wirtschaft und Politik an der Science-Fiction-Literatur begründet?
SP: Dazu möchte ich gern zwei Sachen sagen. Zum einen müssen wir den Unterschied zwischen der extrapolierenden Futurologie einerseits und dem, was die Science-Fiction tut, andererseits klären. Beide sind im Zukunftsgeschäft – aber mit völlig unterschiedlichen Perspektiven. So sagten bspw. Futurologen, die auf die zunehmende Motorisierung in den 1950er Jahren und das goldene Zeitalter Hollywoods blickten: „Irgendwann wird es nicht mehr Kinos geben, sondern Autokinos.“ Science-Fiction-Autoren blickten auf die gleiche Ausgangslage – und sahen die sexuelle Revolution kommen.
Es geht also um Nicht-Linearität, darum, die technologische Extrapolation wieder auf den Menschen zurückzuleiten, auf die ethischen, politischen, psychologischen Fragen, die sich aus einem technologiegetriebenen Szenario ergeben. Von der Frage, was wäre, wenn wir zum Mars fliegen könnten, kommt man dann zu Fragen nach der Art, wie wir miteinander auf dem Mars leben werden oder was es bedeuten würde, wenn auf dem Mars ein Mensch geboren wird.
Diese Denkbewegung ist zentral für die Science-Fiction. Und deshalb wird der Blick der Genreautoren auf konkrete technologische oder politische Fragestellungen zunehmend interessant und anschlussfähig an große strategische Diskurse, die mit wachsender Ungewissheit und der Limitierung klassischer Extrapolation umgehen müssen.
DIALOG: Was ist der zweite Aspekt?
SP: Er betrifft die sogenannte Heterotopie, ein Begriff, den Michel Foucault geprägt hat. Damit hat er Räume beschrieben, die in unserer Mitte sind und dennoch nach prinzipiell anderen Regeln funktionieren, z.B. ein Friedhof: Wir gehen auf einen Friedhof und auf einmal gelten da ganz andere Regeln, es ist eine ganz andere Sphäre. Ich denke, das gilt auch für viele Ideen und Denkräume der Science-Fiction.
So ist etwa die Superintelligenz, die Nick Bostrom beschreibt, eine Idee, die seit Jahrzehnten durch die Science-Fiction geistert. Es geht dabei um die Frage, wie wir mit einem fremden Wesen umgehen, das wir möglicherweise erschaffen haben, das aber unserer Kontrolle entwachsen ist. Das reicht bis hin zu einer Singularität, die unser Leben radikal kippt, einem neuen „Oppenheimer-Moment“. Das kann Horror sein, wie in Harlan Ellisons „Ich muss schreien und habe keinen Mund“ oder eine absolute technizistische Utopie. Das Entscheidende ist aber die heterotopische Perspektive, das Bewusstsein dafür, dass so etwas wie die Künstliche Intelligenz schon längst da ist. Die Übergangszone zwischen Zukunft und Gegenwart könnte demzufolge viel breiter und durchlässiger sein, als wir denken. Das Nachdenken darüber scheint mit klassischen Prognosewerkzeugen nicht besonders gut zu gelingen. Und das erklärt vielleicht auch, warum der spezifische Zugang der Science-Fiction-Erzählungen so fruchtbar ist.
DIALOG: Unser Blick auf die Ökologie, ihre Komplexität, Interdependenzen und Rückkopplungen beginnt sich grundlegend zu verändern – ein Wandel, der mit Friktionen und Schwierigkeiten einhergeht. Wie durchläuft die Science-Fiction diese Transformation weg von Terraforming und Ingenieurseuphorie hin zu einer ganzheitlichen Perspektive?
SP: Das Narrativ des „Wir ziehen hinaus ins All und bauen alles um, was wir entdecken“ war in der Tat über Jahrzehnte dominant. Also eine Art expansives Yankee-Denken ins All hinaus extrapoliert, das Gegenteil eines systemischen, ökologischen Denkens. Nach dem Motto: Es gibt unendliche Ressourcen, wenn nicht auf der Erde, so im Weltraum – wir müssen nur danach greifen. Der Mainstream in der Science-Fiction folgte dabei dem gleichen Paradigma wie der Mainstream in Wirtschaft und Politik.
Doch es hat immer auch andere Erzählungen gegeben, etwa Ursula Le Guins „Das Wort für Welt ist Wald“. Hier muss eine Truppe von Hurra-Ingenieuren auf einem Planeten lernen, dass der riesige Wald keine abbaubare Ressource ist, sondern dass die Welt selbst eine Intelligenz, ein Gegenüber ist. Und dass die indigene Bevölkerung des Planeten weiß, dass