Wir beheben Probleme direkt dort, wo sie entstehen

Wie aus der "Bauteil-DNA" eines Zahnrades dessen digitals Abbild entsteht

Interview mit Dr. Hartmuth Müller, Leiter Bereich Technologie und Innovation, Klingelnberg GmbH


1 Sieger-Platzierung beim „Industrie 4.0 Award
2 Mit Big Data Komplexität reduzieren
3 Mitarbeiter einbinden und motivieren

 

Herr Dr. Müller, mit einer „Digital Twin“-Umsetzung in der Zahnradproduktion gewann Ihr Unternehmen den „Industrie 4.0 Award“. Was ist das Besondere an Ihrer Lösung?

Die einfache Grundidee: Wir wollten ein kom-plettes digitales Abbild der realen physikalischen Fertigungswelt schaffen, in diesem Fall der Zahnradproduktion. Wenn man sich ein Zahnrad vorstellt, denkt man ja an eine bestimmte Anzahl von Zähnen, Flankenformen – und für dessen „Abbildung“ müsste ja eine geometrische Beschreibung völlig ausreichend sein. Das ist aber nicht der Fall, denn ein Zahnrad hat auch „innere Werte“, die mit dem Material zusammenhängen, beispiels- weise Druckeigenspannungen, Härteverläufe. Wir haben aus all diesen Informationen, also quasi aus der „DNA“ des Bauteiles ein digitales Abbild erstellt, das entlang der gesamten Prozesskette in der Fertigung auf Knopfdruck abrufbar ist.


Welche Vorteile haben Sie sich davon erhofft und wie hat sich Ihr Fertigungsprozess verändert?

Ein großer Vorteil hat sich zum Beispiel beim Thema Qualiätskontrolle ergeben. Vor der Digitalisierung war dieser Prozessabschnitt beim Abschluss der Zahnradfertigung auch bei uns nach einem simplen Schema gestaltet: Funktionierte das Zahnrad, war man glücklich – waren die Kontaktbedingungen schlecht, war man nicht glücklich und „reparierte“ den Radsatz. Die komplette digitale Durchgängigkeit unseres Zahnrad-Twin bedeutet, dass wir für jeden Prozessschritt eine spezifizierte, individuelle Geometrie definiert haben. Daher erfahren wir es heute sofort, wenn innerhalb dieses Prozessschrittes etwas schiefgeht – und können sofort korrigierend eingreifen. Gleiches gilt für das Einrichten der Verzahnwerkzeuge. Da die Geometrie eines Stabmesserkopfes in der digitalen Welt vorliegt, kann durch einen Vergleich mit der realen Werkzeug-Geometrie und einen überlagerten Closed-Loop-Prozess ein hochpräzises Verzahnwerkzeug für die Bearbeitung zur Verfügung gestellt werden. Der Effizienzgewinn liegt in einem hohen First Pass Yield, also der äußerst kleinen Anzahl fehlerhafter Bauteile, sowie in sicheren Rüst- und Bearbeitungsprozessen. Dank dieser automatischen Closed-Loop-Assistenzsysteme haben wir einen Fertigungsprozess, der sehr gut geradeaus läuft. Ergo bessern wir nicht mehr nach, sondern beheben Probleme direkt dort, wo sie entstehen.


Das klingt allerdings nach einem gewaltigen Datenpensum – wie stellen Sie sicher, dass der „Digitale Twin“ nicht zum Komplexitätstreiber wird?

Mit unserem Big-Data-Ansatz: Wir sammeln nur die Daten, die uns helfen, diesen Prozess besser zu verstehen. Beim Härten von Zahnrädern gibt es immer Härteverzüge. Wir haben versucht, dazu analytisch eine Kausalkette herzustellen, um die Härteverzüge im Voraus zu berechnen. Das war aber nicht zu schaffen, sodass wir uns stattdessen für eine Korrelation als Lösungsweg entschieden haben. Wir sammeln die geometrischen Abweichungen, die bei Härteprozessen entstehen, und bilden daraus eine Wissens basis. Somit können wir relativ genau vorhersagen, welches Bauteil mit welcher Geometrie sich im Härteprozess wie verhalten wird. Damit können wir wiederum ein minimales, aber sicheres Aufmaß berechnen. So schaffen wir für die nachfolgenden Prozessschritte in der Hartfeinbearbeitung die günstigsten Voraussetzungen.


Welche Aufgaben übernimmt die IT-Plattform GearEngine in Ihrem Closed-Loop-Produktionssystem?

Hier laufen mehrere Dienste zusammen: GearEngine verwaltet die Daten des Zahnrades, alle Daten der Produktionsmittel und sichert die Rückverfolgbarkeit des Herstellprozesses jedes einzelnen Zahnrades – wenn dieses über DMC-Codes oder RFID-Chips identifizierbar ist. Sobald ein Zahnrad das erste Mal in der Prozesskette identifiziert wird, legt die GearEngine eine digitale Bauteilakte an. Jede am Prozess beteiligte Maschine meldet der Plattform die vorab definierten Parameter für das gerade bearbeitete Zahnrad zurück. Somit entstehen im Verlauf der Wertschöpfungskette das reale Bauteil und die digitale Akte. Durch die Vernetzung der Bearbeitungsmaschinen und der Zahnrad-Berechnungssoftware mit der GearEngine sind die Daten stets für jede beteiligte Maschine unmittelbar verfügbar. Außerdem überwacht die IT-Plattform den aktuellen Verschleißzustand aller Produktionsmittel.


Welche Herausforderungen sollten Fertigungsunternehmen bei der Entwicklung und Einführung eines Digital Twin unbedingt im Blick haben?

Die größte Herausforderung liegt darin, die Mitarbeiter ganz zu Beginn richtig in das Projekt miteinzubinden – wenn das Team nicht mitzieht, kann so ein Vorhaben nicht von Erfolg gekrönt sein. Bei der Entwicklung des gerade genannten Assistenzsystems befürchteten zum Beispiel einige Mitarbeiter, dass ihr Know-how in die Software fließt und damit ihre Arbeit überflüssig wird, was überhaupt nicht der Fall war. Dann muss man eine gute Überzeugungsarbeit leisten und vermitteln, dass die Software ohne das Wissen der Mitarbeiter gar nichts leisten wird, auch in Zukunft nicht. Das ist uns gelungen: Der Digital Twin erfreut sich nicht nur einer sehr hohen Akzeptanz bei den Mitarbeitern, wir konnten auch die erwähnten Bene ts von Beginn an heben.

Das Video zum „Digital Twin“ von Klingelnberg sowie weitere Videoclips zum Thema Digitalisierung finden Sie auf unserem YouTube-Channel.


"Wir sammeln nur die Daten, die uns helfen, diesen Prozess besser zu verstehen"
Dr. Hartmuth Müller
 

Das Maschinenbauunternehmen Klingelnberg GmbH ist Weltmarkt- und Technologieführer in der Entwicklung und Herstellung von Maschinen für die Fertigung von Verzahnungen, von Präzisionsmesszentren für rotationssymmetrische Objekte aller Art sowie bei der Fertigung hochpräziser Getriebekomponenten im Kundenauftrag.

Mit rund 1.300 Mitarbeitern, 220 F&E-Ingenieuren rund um den Globus und über 100 erteilten Patenten stellt das Unternehmen seine Innovationskraft stetig unter Beweis.
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