SCHWACHE SIGNALE VON DER FLEISCHTHEKE
Herr Kiel, das Thema Blockchain wurde zuletzt, ausgelöst durch den Bitcoin-Hype, in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert. Sie beschäftigen sich im Rahmen eines Hochschulprojekts bereits seit Langem mit der Rezeption von neuen Technologien. Wie bewerten Sie die aktuelle Debatte?
Der Diskurs um „die Blockchain“ ist auf vielen Ebenen von Paradoxien und Gegensätzen geprägt. Nehmen Sie etwa das Thema Kryptowährungen, die einerseits mehr Sicherheit und Transparenz im Zahlungsverkehr versprechen, denen andererseits aber weiterhin eine gewisse Verruchtheit anhaftet. Interessanterweise ist es genau dieses Paradox, das zum Treiber des Trends und seiner Verbreitung wird. Es ist also kein Wunder, dass gerade diese Anwendung der Blockchain-Technologie eine solche öffentliche Aufmerksamkeit erfahren hat.
Aber ähnliche Effekte erleben wir auch bei der Blockchain-Technologie selbst: nämlich auf der einen Seite das Versprechen von Vertrauen und Transparenz und ein fehlendes Verständnis der Technologie an sich auf der anderen. Denn was „in der Blockchain passiert“, bleibt für den Nutzer in der Regel eine Blackbox. Und trotzdem – oder gerade deswegen – scheint das Vertrauen in diese Blackbox schier grenzenlos zu sein. Das kann man kritisch sehen, aber meines Erachtens zeigt sich daran, dass wir heute viel weiter im Diskurs und im Umgang mit Technologie sind als noch vor 20 Jahren; indem wir nämlich bereit sind, auf neue Technologien zuzugehen und solche Paradoxien zuzulassen. Man könnte kritisch einwerfen: Nur weil so wenig Vertrauen in der Welt ist, gibt es eben die Blockchain und Smart Contracts, die dieses Vertrauen sichern. Aber es scheint ja umgekehrt zu sein, dass trotzdem durchaus ein Vertrauen in Technologie da zu sein scheint. Also insofern würde ich den aktuellen Diskurs eher als einen Vertrauensdiskurs sehen, obwohl das ein wenig komisch klingt, weil es bei der Blockchain ja gerade um das Fehlen bzw. das Sichern von Vertrauen geht.
Ein weiteres gängiges Narrativ in Bezug auf die Blockchain ist das der totalen Disruption. Banken, Versicherungen und die Industrie – überall wird die Blockchain-Revolution propagiert. Was ist davon zu halten?
Ich halte solche Aussagen für übertrieben. Für mich hat die Blockchain-Technologie nichts mit Disruption zu tun, sondern ist vielmehr eine logische Weiterentwicklung. Die amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff hat bereits in den 80er Jahren ein Gesetz zum Einfluss von Informationstechnologie formuliert, das aus drei Stadien besteht. Erstens: Alles was automatisierbar ist, wird automatisiert. Zweitens: Alles, was sich in Informationen überführen lässt, wird zur Information. Und wird drittens schließlich überwacht. Die Blockchain-Technologie ist sozusagen eine omnipotente Einlösung dieses Drei-Stadien-Gesetzes. Sie ist daher nicht disruptiv, sondern für mich eher der logische Schritt einer Digitalisierung von Entitäten, um diese nachvollziehbar zu machen. Eine Entwicklung, die sich im Übrigen schon länger abzeichnet.
Woran machen Sie das fest?
Nun, wir stoßen im Alltag immer wieder auf das Thema Provenienz, ob das jetzt Beutekunst ist oder das Schnitzel an der Fleischtheke. Fragen wie: „Wo kommt mein Steak her?“ oder: „Wurde diese Jeans nachhaltig produziert?“, sind, wie der Trendforscher sagen würde, schwache Signale für den Wunsch nach Transparenz. Denn als Konsument bzw. als Vertragspartner habe ich die Wahl: Ich kann entweder darauf vertrauen, dass ein Produkt fair gehandelt bzw. das richtige Bauteil an der richtigen Stelle verbaut worden ist oder ich kann Beweise dafür verlangen. Compliance-Vorschriften oder staatliche Regulative, wie etwa die EU-DSGVO, funktionieren bereits nach dem Prinzip der Nachweispflicht und sind damit gewissermaßen die Vorboten einer Entwicklung, in der Transparenz Vertrauen ersetzt. Mitten in diese Entwicklung hinein tritt nun die Blockchain als erste übergreifende Lösung, die nicht mehr an proprietäre Systeme zur Vertrauenssicherung gekoppelt ist – und das ist ja fast schon ein postmodernes Versprechen, diese Grenzen einzureißen, die nicht mehr auf Vertrauen und proprietärem Wissen basieren, sondern auf Transparenz und Nachweisbarkeit.
Dadurch eröffnen sich natürlich auch für die Industrie zahlreiche Einsatzmöglichkeiten im Hinblick auf die Einhaltung von Qualität und Herkunft, etwa durch Smart SLAs im Sinne von Blockchain-basierten Smart Contracts – indem sie das Vertrauens- und Transparenzproblem jenseits einer ständigen vertraglichen Sichtung lösen. Wir beginnen gerade ganz neu über Vertraglichkeiten zwischen Unternehmen nachzudenken – das ist natürlich spannend.
Smart Contracts sind eine der bekanntesten Spielarten der Blockchain-Technologie. Doch auch hier gibt es zahllose Umsetzungsmöglichkeiten. Wie sollten Unternehmen, die bislang keine Erfahrung mit der Technologie haben, bei der Umsetzung von Blockchain-Lösungen vorgehen?
Meines Erachtens liegt die Herausforderung weniger in der technischen Umsetzung als in der Entwicklung von geeigneten Szenarien für den Einsatz der Blockchain im Rahmen bestehender und neuer Geschäftsmodelle sowie in deren Validierung. Unternehmen agieren hier häufig sehr technologiegetrieben. In solchen Fällen ist es sinnvoll, nochmal einen Schritt zurückzutreten und ganz grundständig über Themenfelder des eigenen Geschäftsmodells nachzudenken und welche Technologien hier tatsächlich sinnvoll einsetzbar sind. Das kann auch zu der Erkenntnis führen, dass eine konventionelle Datenbank für den Einsatz im Unternehmen derzeit besser geeignet ist.
Grundsätzlich versuchen wir allerdings sehr schnell, nämlich innerhalb von zwölf Tagen, zu ersten Praxislösungen in Form von Minimum Viable Products (MVPs) zu kommen. So können wir frühzeitig validieren, ob die Geschäftsmodellidee und die dazugehörige technische Umsetzung überhaupt tragfähig sind. Nehmen wir das Beispiel einer Fahrradversicherung, die wir als Szenario für einen Kunden entwickelt haben: Mithilfe einer auf den Rahmen gedruckten, eindeutigen Nummer sollte das Fahrrad bei der Blockchain registriert und gesichert werden. Das ist in technischer Hinsicht kein Problem. Allerdings wies das Verfahren beim Durchspielen mit Testnutzern erhebliche Schwachpunkte auf. So war es beispielsweise nicht mehr möglich sein Fahrrad zu verschenken oder zu verleihen, ohne eine formale Übergabe zu machen, da es fest in der Blockchain registriert war. Das heißt, die Persistierung von Artefakten führte dazu, dass einfache vertrauensbasierte Handlungen nicht mehr möglich waren. Das Beispiel macht deutlich, wie wichtig es ist, möglichst schnell zu einem testbaren Prototyp zu gelangen, der es möglich macht, nicht nur die technischen Aspekte, sondern auch die soziale Akzeptanz am Markt zu überprüfen.
Das Beispiel zeigt auch, dass die Blockchain für Unternehmen und Endanwender teilweise noch nicht völlig durchschaubar ist. Nach dem Hype zu Beginn des Jahres, als etliche Unternehmen eine eigene Kryptowährung entwickeln wollten, scheint es nun ruhiger um das Thema zu werden. Kam die erste Welle zu früh?
Man sollte hier zwei Perspektiven unterscheiden: Aus der Technologieperspektive kommend, könnte man die Blockchain auch einfach als eine Art Datenbank betrachten, also eine fast schon grundständige Technologie bzw. IT-Lösung. Diesen besonderen Nimbus erhält die Blockchain erst durch die spekulativen Elemente, die durch das beinahe schon popkulturelle Element der Kryptowährungen dazugegeben werden. Wir haben also auf der einen Seite eine beherrschbare Technologie, mit der sich bereits heute ganz konkrete Projekte umsetzen lassen, und auf der anderen Seite, abgelöst davon, ein reines Spekulationsobjekt. Das sollte man im Diskurs klar voneinander trennen – aber landläufig wird es ja meist latent zusammengedacht.