„DER ABLASSHANDEL MIT ZERTIFIKATEN HAT KEINE ZUKUNFT“
Das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens ist das Fokusthema des VDI (Verein Deutscher Ingenieure) im Jahr 2021. Im Rahmen der fachübergreifenden VDI-Initiative „1,5 – Innovationen.Energie.Klima – Gemeinsam für das Klimaziel“ stehen Experten aus den VDI-Fachgesellschaften Unternehmen als Ansprechpartner zur Verfügung. Als unabhängiger, technologieoffener Verein mächte der VDI dabei über Lösungspfade und ihre Vorund Nachteile transparent informieren – etwa bei Fragen des Klimaschutzes, der Bereitstellung von Strom und Wärme oder der Mobilität.
Gespräch mit Christian Borm, Koordinator des „VDI -Fokusthemas 1,5 “, über energieflexible Fabriken und nachhaltig gestaltete Wertschöpfungsnetzwerke.
DIALOG: Herr Borm, die Vertreter der G7-Staaten konnten sich in Cornwall nicht auf ein konkretes Kohle-Ausstiegsdatum einigen, vereinbarten aber eine Infrastruktur-Initiative zur Unterstützung der Entwicklungsländer. Werden die Schwerpunkte der globalen Klimapolitik neu gesetzt?
CB: Nicht neu gesetzt, aber neu betrachtet. Das Anliegen der Infrastruktur-Initiative ist aus mehreren Gründen wichtig wie nie zuvor: Erst einmal ist die Klimakrise global und kann nur global gelöst werden. Also sind Investitionen in den Aufbau einer nachhaltigen, funktionierenden Wirtschaft überall auf der Welt notwendig, gerade nach Covid-19. Dazu kommt aktuell sicherlich eine politisch motivierte Konnotation, nämlich die Infrastruktur-Initiative der G7 als nachhaltige Alternative zum chinesischen Projekt der Neuen Seidenstraße ins Spiel zu bringen. Ein Stück weitergedacht, geht es aber noch um eine weitere Dimension: nämlich darum, weltweit gleiche, faire Produktionsbedingungen zu erreichen – aber eben auch aus Sicht der Industrienationen. Solange im globalen Wettbewerb der Produktpreis das Maß aller Dinge ist, werden Unternehmen in Europa vielleicht klimafreundlicher, aber dafür mit höheren Kosten produzieren als solche Unternehmen, die sich keinerlei Gedanken um Umweltschutz und transparente Lieferketten machen müssen. In diesem Kontext gewinnt das Thema „Level Playing Field“, also die Gew hrleistung gleicher und fairer Wettbewerbsbedingungen für alle Marktteilnehmer, daher wieder an Bedeutung.
DIALOG: Dazu werden, ähnlich wie in Europa, strengere regulatorische Vorgaben notwendig sein. Wo sollten Regierungen ansetzen, um kurz- und langfristig viel für den Klimaschutz zu erwirken?
CB: Eindeutig am Ausbau der erneuerbaren Energien. Das ist der „Rohstoff“, den wir überall auf der Welt zur Transformation im Energiesystem benötigen, auch ganz besonders in Deutschland. Wenn wir erneuerbare Energien hierzulande nicht flächendeckend nutzen können, wird alles, was nachgelagert ist, nicht
sinnvoll funktionieren. Es sei denn, sie sind irgendwo auf dem Weltmarkt genauso „grün“ verfügbar.
DIALOG: Mit welchen Hürden ist die deutsche Industrie beim Umstieg auf erneuerbare Energien konfrontiert?
CB: Wie gesagt muss diese erneuerbare Energie erst einmal in ausreichender Menge vorhanden sein. Und zwar nicht nur bilanziell über das Jahr, sondern in genau den Zeiträumen, in denen sie auch benöigt wird. Auch wenn Sie auf dem Strommarkt auf dem Papier „grüne“ Energiemengen nach Terrawattstunden einkaufen, werden diese physikalisch gesehen nicht zwangsläufig komplett „grün“ sein. Wer aktuell in Deutschland mit einer tatsächlich nachhaltigen Energieversorgung produzieren will, muss seine Anlagen also mit der Erzeugung aus Photovoltaik, Wind, Wasserkraft oder Geothermie synchronisieren oder Energie aus diesen Quellen über Fernleitungsnetze aus dem Ausland importieren. Die zweite große Hürde besteht dann darin, die Fertigungsprozesse auf diese Form der Energieversorgung hin zu optimieren, d.h., eine Energieflexibilität der Fabrik herzustellen. Dazu ist eine ganze Reihe von mal mehr, mal weniger gravierenden Veränderungen notwendig – etwa zur Energiespeicherung, bei der Anpassung der Maschinenbelegung, der Auftragsreihenfolge, bei den Prozessstarts usw. In der Richtlinienreihe VDI 5207 beschreiben wir, wie man seine Produktion entsprechend umstellen kann, sodass diese Maßnahmen miteinander harmonieren.
DIALOG: Klingt nach einer u erst anspruchsvollen Aufgabe …
CB: So ist es. Und dabei haben wir noch gar nicht berücksichtigt, dass die meisten Produktionen ja einen möglichst kontinuierlichen Ablauf zur maximalen Ausnutzung ihrer Ressourcen verfolgen. Das steht grundsätzlich im Widerspruch zu einer Energienutzung, bei der man im wahrsten Sinne des Wortes nach Wetterlage mit kologischer oder konomischer Gewichtung entscheiden muss. Wobei das so auch heute noch gar nicht ohne Weiteres möglich ist. Das ist eine weitere, zentrale Herausforderung, die in den nächsten Jahren zu lösen ist: die digitalen Schnittstellen und Datenbanken zu schaffen, anhand derer die Unternehmen verlässlich erfahren, wann dieses Angebot erneuerbarer Energien zum gewünschten Preis genau zur Verfügung stehen wird, sodass sie ihre Produktion danach planen können. Eine Transformation zur energieflexiblen Fabrik wird also in den meisten Fällen erfordern, die Wertschöpfungsprozesse neu auszurichten.
DIALOG: Nun ist die Energieversorgung aber nur ein Aspekt, bei dem Unternehmen Pluspunkte für ihre Klimabilanz sammeln können. Wo lässt sich weiteres Potenzial nutzen?
CB: Best-Practice-Unternehmen setzen sich mit mindestens drei Handlungsfeldern auseinander: Erstens mit einer kontinuierlichen Weiterentwicklung der Energieversorgung mit dem Ziel, zu 100% erneuerbare Energien zu verwenden. Zweitens mit einer Kontrolle der von au en zugekauften Betriebsmittel mit der Zielsetzung, einen möglichst geringen Ressourcen-, Energie- bzw. CO₂-Footprint zu erreichen. Drittens mit der Weiterentwicklung ihres Supply Chain Managements, bei dem bis zur Tier-3-Ebene sichergestellt wird, dass die Punkte eins und zwei geteilt und gemeinsam verfolgt werden – das ist sozusagen die Endstufe. „Ohne den Ausbau der erneuerbaren Energien ist keine echte Transformation möglich.“ „Ein fairer Wettbewerb ist essenziell für einen erfolgreichen Klimaschutz.“ „Die Transformation zur energieflexiblen Fabrik erfordert eine Neugestaltung der Wertschöpfungsprozesse.“ 16 Auf diesen dritten Scope, sich und ihre Zulieferer komplett „grün stellen“ zu können, arbeiten einige Unternehmen bereits sehr aktiv hin. Das ist genau der richtige Weg – im Gegensatz zum Erwerb von Zertifikaten, um Lücken oder Mängel zu kompensieren. Dieser Ablasshandel ist nicht zukunftsfähig, da er die notwendigen Veränderungen im eigenen Unternehmen und den Zulieferfirmen vertagt, anstatt sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Es gibt Restemissionen, die technisch bedingt nur durch Kompensationsma nahmen ausgeglichen werden können, aber diese Illusion von Nachhaltigkeit, alle Probleme ohne andere Anpassungen lösen zu wollen, hilft niemandem.
DIALOG: Was zeichnet denn ein nachhaltiges Supply Chain Management aus?
CB: Generell sollte man dafür sorgen, dass der eigene Fertigungsprozess mit einem m glichst geringen Footprint behaftet ist. Und daraufhin dann den Lebenszyklus des Produktes optimieren, sodass dieses am Ende möglichst gut recycelbar ist und die Rohstoffe wieder dem Kreislauf zugeführt werden. Wer bislang viel Wert auf eine Weiterentwicklung der Zusammenarbeit mit seinen Zulieferern in Sachen Kosten, Innovation und Verlässlichkeit gelegt hat, wird sich leichter tun, diese Kooperation zusätzlich auf ein nachhaltiges Wirtschaften auszurichten.