„Das Auto muss neu gedacht werden“

Interview mit Prof. Dr.-Ing. Matthias Busse, Vorstandsvorsitzender Forum ElektroMobilität e.V.

DIALOG: Herr Professor Busse, Elektromobilität bringt einen komplexen Veränderungsprozess mit sich. An welchen kritischen Punkten verwandeln sich die Wertschöpfungsketten der Automobilindustrie zukünftig besonders?

MB: Mit Blick auf das heutige Auto ist es aus mittel- und langfristiger Perspektive sicher zu kurz gegriffen, sich nur mit den Veränderungen des Antriebsstrangs zu beschäftigen. Das Auto muss grundlegend neu gedacht werden, zumal ja auch weitere Zäsuren in der Mobilität wie das autonome Fahren oder die intelligente Vernetzung der Fahrzeuge in die Infrastruktur anstehen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Elektromobilität nur dann zum gewünschten Erfolg führen und die erhofften Verbesserungen bringen wird, wenn man diese Themen zusammendenkt. Deswegen ist es nicht damit getan, nur den Verbrennungsmotor rauszunehmen und den Elektromotor mit einer Batterie einzusetzen. Vielmehr muss das Auto in seiner Umgebung neu gedacht werden.

DIALOG: Was bedeutet das konkret in Bezug auf den Aufbau des Fahrzeugs? Welche Komponenten fallen weg, welche Teile haben auch im Elektrofahrzeug weiterhin Bestand?

MB: Vom technischen Standpunkt her ist es natürlich so, dass einige Komponenten des konventionellen Fahrzeugs zukünftig in dieser Form nicht mehr vorhanden sein werden. Das betrifft etwa den Motor selbst, das Getriebe sowie die gesamte Kraftstoffaufbereitung oder die Abgasnachbehandlung – immer vorausgesetzt, dass das reine Elektrofahrzeug kommt. Wir gehen davon aus, dass in den nächsten zehn Jahren noch viele Hybride auf dem Markt sind. Dort haben wir gewissermaßen zwei Autos in einem verbaut, da es sowohl den kompletten Antriebsstrang eines Verbrennungsmotors als auch einen elektrischen Antriebsstrang enthält – im Grunde das teuerste, technologisch anspruchsvollste und schwerste Auto, das man sich vorstellen kann. Dennoch wird insbesondere der deutsche bzw. der europäische Markt das eine gewisse Zeit lang fordern, weil wir hier von einem sehr hohen technologischen Niveau der Autos kommen und niemand bereit ist, im ersten Schritt auf Reichweite oder Ähnliches zu verzichten.

Wenn man sich hingegen das reine Elektrofahrzeug ansieht, dann wird das Fahrzeug viel einfacher werden. Der elektrische Fahrzeugstrang hat deutlich weniger Komponenten. Was wir in den letzten 120 Jahren beim Verbrennungsmotor entwickelt haben, ist schon ein technisches Wunderwerk; und nur, weil wir das inzwischen in so großen Stückzahlen und mit einem so großen Wettbewerb machen, können wir überhaupt einen Verbrennungsmotor zu marktverträglichen Preisen anbieten. Perspektivisch wird das Elektrofahrzeug also das kostengünstigere werden, weil es wesentlich einfacher aufgebaut ist. Wenn man umgekehrt vor 120 Jahren angefangen hätte, den Elektroantrieb zu optimieren und jetzt in kleinen Stückzahlen den Verbrennungsmotor entwickeln würde, dann wäre der für jeden Normalverdiener viel zu teuer. Da vieles wegfallen wird, was mittlerweile an hochkomplexer Getriebetechnologie oder Abgasaufbereitung im Fahrzeug enthalten ist, ändern sich natürlich auch die Wertschöpfungsketten beim Zulieferer.

DIALOG: Mit einem Wegfall von Verbrennungsmotoren, Getriebe und Abgastechnik steht sogar die Existenz vieler Zulieferer auf dem Spiel. Gibt es Überlebenschancen?

MB: Es gibt durchaus Unternehmen, die sich mit ihrem technologischen Portfolio neu aufstellen können, ohne sich dazu komplett neu erfinden zu müssen. Nehmen Sie etwa die Gießerei-Industrie: Zylinderkurbelgehäuse, Zylinderköpfe, Felgen – all diese Komponenten werden gegossen. Mit Ausnahme der Felge benötigt man diese Bauteile zukünftig sicherlich nicht mehr in den bisherigen Mengen. Darauf muss sich eine Gießerei bzw. die gesamte Branche einstellen und neue Angebote finden, etwa in Form von alternativen Produkten: So können zum Beispiel Spulen, die beim Elektromotor zum Einsatz kommen, mithilfe eines Spezialverfahrens des Fraunhofer IFAM gegossen und nicht mehr gewickelt werden. Aus einer gewickelten Spule wird so eine gegossene Spule mit neuen technischen Attributen – mit einem solchen Denkansatz kann dann auch ein Zulieferer bei der Fertigung von Elektromotoren mitspielen.

DIALOG: Was muss in den kommenden Jahren konkret geschehen, damit sich Deutschland als Leitanbieter für Elektromobilität im globalen Wettbewerb behaupten kann?

MB: In der Automobilbranche wird es darauf ankommen, die hohe Varianz neuer Technologien zu nutzen und die zunehmende Komplexität auf mehreren Handlungsfeldern zu beherrschen. So spielen beispielsweise Software- und Digitalthemen eine zunehmend zentrale Rolle. Wir haben ja ohnehin schon sehr viele Steuergeräte, Elektronik und Software im Fahrzeug. Dieser Trend wird sich weiter fortsetzen. Das heißt, die Verbindung zur Softwarebranche, zu den Elektronikherstellern sollte intensiviert werden. Zudem müssen Branchen, die bisher weitgehend getrennt waren, viel stärker kooperieren. Entscheidend ist aber, dass wir alles, was unter der großen Überschrift Energiewende an anderer Stelle diskutiert wird, auch für das Auto mitdenken. Wir sollten diese Diskussionen nicht trennen, im Gegenteil – die Automobilindustrie und die Energieversorger müssen noch viel intensiver zusammenarbeiten und ihre Ziele abstimmen. Elektromobilität macht nämlich nur dann Sinn, wenn wir den Strom zum Fahren eines Tages komplett aus regenerativen Quellen beziehen, was durchaus möglich ist. An diesen Stellen, also bei der digitalen Vernetzung des Fahrzeugs und bei der Vernetzung des Fahrzeugs mit der Ladeinfrastruktur, sind die Branchen momentan noch sehr auf sich gestellt und operieren unabhängig voneinander. Hier ist
auch die Politik gefragt, eine solche Vernetzung zu fördern und eine Sensibilität dafür zu entwickeln, dass das Auto in seiner gesamten Infrastruktur neu gedacht werden muss.

 

"Die Automobilindustrie und die Energieversorger müssen noch viel intensiver zusammenarbeiten und ihre Ziele abstimmen.“

 

DIALOG: Welche Beispiele für eine Kooperation zwischen diesen Branchen sind denkbar?

MB: Nehmen wir als Beispiel die Fotovoltaikindustrie. Es ist ein faszinierender Gedanke für jeden privaten Besitzer eines Elektrofahrzeugs, den Strom auf seinem eigenen Dach zu erzeugen, ihn zu Hause zu speichern und abends den eigenerzeugten Strom zum Laden des Elektrofahrzeugs zu nutzen. Die übergeordnete Frage lautet: Wo bekommen wir den Strom her? Und die Antwort muss lauten: aus regenerativen Energien. Als Industriestandort Deutschland müssen und können wir das auch darstellen. Tatsächlich benötigen wir gar nicht so viel zusätzlichen Strom, wenn wir alle Pkw elektrisch betanken wollten. Die Experten sprechen von lediglich 8–10 Prozent mehr Strom im Vergleich zu heute. Das könnten wir durch ein intelligentes Steuern unseres Energienetzes auch regenerativ erreichen, mit Wind- und Sonnenenergie. Allerdings muss man auch Lösungen dafür finden, die Energie zu speichern. Denn hier treffen sich ja wieder die Branchen, die auch für das Auto interessant sind, nämlich beim Thema elektrischer Speicher, sprich der Batterie. Aber eben nicht nur im Auto, sondern auch für das Speichern von Strom im Haus oder in Kommunen. Ob ein Speicher zu Hause fest einbaut wird oder im Pkw, macht keinen großen Unterschied.

DIALOG: Mit welchen technologischen Innovationen können wir in naher Zukunft bei der Elektromobilität rechnen?

MB: Eine sehr interessante Frage lautet: Muss der Strom tatsächlich über das Kabel ins Auto gelangen? Und da behaupte ich: Nein. Warum sollte man nicht daran arbeiten, den Strom während der Fahrt induktiv ins Auto zu bringen? Dieses Prinzip kennen wir von der elektrischen Zahnbürste: Eine Spule ist beispielsweise im Parkplatz eingebaut, die Gegenspule im Fahrzeug. Durch eine hochfrequente Wechselspannung kann man den Strom so ohne Kabel ins Auto bringen. Bei parkenden Fahrzeugen ist das problemlos möglich, das ist bereits jetzt nahezu Stand der Technik. Es kann aber auch während des Fahrens funktionieren, nämlich durch induktive Übertragung. Wir nennen dieses Verfahren dynamisches induktives Laden. Das erfordert, dass eine Spulenstruktur auf der Straße verlegt ist und das Auto über die entsprechende Gegenspule verfügt. Wenn man sich vorstellt, wir hätten alle Fernstraßen mit solchen Spulensystemen ausgerüstet, dann hätten wir auf einen Schlag die ganze Reichweitenthematik überwunden. Wir hätten eine Technologie, in der wir die Technologieführerschaft übernehmen könnten. Um das umzusetzen, bedarf es allerdings politischer Weichenstellungen. Denn das ist eine Grundsatzfrage, die mindestens die gleiche Tragweite hat wie der Umstieg von der Diesel- auf die Elektrolok und der Ausbau der Oberleitungen im Schienennetz.

DIALOG: Was wird den Wandel zur E-Mobilität – in Deutschland und international – weiter antreiben?

MB: Es gibt eine Fülle technologischer Ideen und Ansätze, über die sich deutsche Unternehmen weiterhin mit einem Alleinstellungsvorteil im globalen Wettbewerb positionieren können, wenn sie intensiv an diesen Ansätzen weiterarbeiten. Die Elektromobilität steht dabei im Zentrum, aber viele andere Themen, die daran angrenzen, müssen mitgedacht werden. Wenn dies jetzt nicht intensiv geschieht, besteht auch die Gefahr, dass uns andere Nationen wie China oder die USA den Rang ablaufen. Das unser Markt fast voll ist mit den besten und tollsten Autos, wird hier leider zum Nachteil: Die Motivation der Kunden zum Kauf eines Elektroautos ist somit nicht hoch. In anderen Regionen der Erde sieht das völlig anders aus, da dort der Bedarf an Mobilität enorm ist.

„Warum sollte man nicht daran arbeiten, den Strom während der Fahrt induktiv ins Auto zu bringen?“

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