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„Purpose-Weltmeister zu sein reicht nicht“
Gespräch mit Stefan Schulze-Hausmann, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutscher Nachhaltigkeitspreis
DIALOG: Herr Schulze-Hausmann, als Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutscher Nachhaltigkeitspreis haben Sie einen einzigartigen Einblick in die Auseinandersetzung der Industrie mit Nachhaltigkeitsthemen. Welche Entwicklungen konnten Sie in den vergangenen Jahren beobachten, wie hat sich die Perspektive der Unternehmen verändert?
SSH: Ich würde Ihnen gern einen kleinen Rückblick in die Entwicklung des Deutschen Nachhaltigkeitspreises geben, aus dem man eine Antwort darauf ableiten kann, wo wir heute stehen. Als wir angefangen haben, sind wir mit einem relativ dicken Fragenkatalog an die deutsche Industrie herangetreten und haben gefragt: „Wo steht ihr in Sachen Nachhaltigkeit?“ Das wurde damals nicht sehr ernst genommen. Die meisten haben uns geantwortet, dass sie entweder über die von uns angefragten KPIs gar nicht verfügen oder diese nicht offenlegen möchten. Aber man erzählte uns bereitwillig über soziale Projekte in Afrika, die Förderung des örtlichen Fußballvereins oder die Nutzung von Recyclingpapier.
Das war 2008. Die nächste Phase unterschied sich davon sehr deutlich. Sie war davon gekennzeichnet, dass die Unternehmen begannen, Nachhaltigkeitsstrategien aufzusetzen, Managementstrukturen zu schaffen und dem Thema einen Platz auf der Agenda der Unternehmensführung einzuräumen. Die Bewerbungen, die uns erreichten, wurden nun nicht mehr von einer PR-Agentur – oder bestenfalls vom Umweltbeauftragten abgesendet –, sondern von Mitgliedern des oberen Führungskreises.
DIALOG: Das Thema Nachhaltigkeit war also erwachsen geworden?
SSH: Ja, das ist eine sehr gute Formulierung. Nachhaltigkeit wurde zu einem Thema für den Boardroom und führte zunehmend zu strukturellen Veränderungen in den Unternehmen. Dabei gerieten zunächst Prozesse in den Fokus: nicht nur das „House Keeping“, also die Umstellung der Dienstwagenflotte auf Ökostrom, Solarverglasungen und andere durchaus sinnvolle Maßnahmen, sondern es ging immer stärker um Produktions- und Logistikabläufe, also den Prozessorkern der Unternehmen. Inzwischen beschäftigt man sich intensiver mit Produkten und Ansätzen, um diese so zu designen, dass sie im gesamten Lebenszyklus möglichst viele Nachhaltigkeitseffekte erzielen. Und das verändert die Perspektive ganz entscheidend. Die Haupttreiber für die nachhaltige Transformation sind heute Wettbewerbsfähigkeit, Leadership in Themen, Marktführerschaft – und das am besten global.
DIALOG: Nachhaltig zu sein ist also keine Frage des Purpose mehr?
SSH: Es ist nach wie vor, aber eben nicht mehr ausschließlich eine Frage der Haltung, des Purpose. Es bedeutet, jeden einzelnen Prozess, jeden Produktlebenszyklus unter die Lupe zu nehmen. Die härteste Arbeit ist, von Vision und Purpose in die industrielle Umsetzung zu kommen. Anderenfalls bleiben die Veränderungen flach – sie sind dann weder glaubwürdig noch wirklich transformativ. Schlechte, ineffiziente Prozesse können nicht nachhaltig sein, sie können die ökonomischen Chancen der nachhaltigen Transformation nicht realisieren.
Es gilt aber auch: Wenn kein übergeordneter Purpose die Strategie des Unternehmens prägt und kein Wille der Führung da ist, Nachhaltigkeit zu einer Maxime zu machen, geht es nur um Prozessoptimierung mit Tools, Methoden und Zielsetzungen, die es schon immer gab. Das reicht nicht.
DIALOG: Wann wird der Purpose also strategisch relevant?
SSH: In Zweifelsentscheidungen z.B. Es gibt in einem großen Unternehmen vermutlich täglich Scheidewege, an denen man sagen kann, das ist das Effiziente, Glatte. Und dann muss man sich bewusst für etwas entscheiden, was nachhaltiger ist, aber vielleicht nicht ganz so effizient wie das andere.
DIALOG: Wir haben in den vergangenen Jahren gesehen, dass die Überbetonung der Effizienzziele eine Kehrseite hat – man kann bspw. nicht Effizienz und Resilienz gleichzeitig maximieren.
SSH: Ein weiterer interessanter Begriff ist in diesem Zusammenhang Suffizienz, also die Vermeidung eines Überverbrauchs, einer Ressourcenverschwendung, die unsere Lebens- und Wirtschaftsgrundlagen überlastet. Dieses Denken ist mit der industriellen Logik sehr wohl kompatibel, die Vermeidung von Verschwendung jeglicher Art ist ja Kern der Lean-Philosophie. Wir brauchen also ein breiteres Verständnis der ökologischen, sozialen und ökonomischen Aspekte der Nachhaltigkeit und müssen nach Wegen suchen, sie zu verbinden.
DIALOG: Beobachten Sie diese differenzierte, breite Perspektive in der Auseinandersetzung der Industrie, aber auch der Öffentlichkeit mit Nachhaltigkeit?
SSH: Ja, das ist eine eindeutige Entwicklung. Nachhaltigkeit war zunächst grün, war im Grunde gleich Umweltschutz. Ich denke, die größte Veränderung der vergangenen fünf bis acht Jahre liegt in der „Entdeckung“ der sozialen Dimension der Nachhaltigkeit und ihrer Integration in die Strategien und die rechtlichen Rahmenbedingungen. Das sehen wir an solchen Themen wie dem Lieferkettengesetz, den Scope-3-Themen, die für Unternehmen mit einer enormen Verantwortlichkeitserweiterung verbunden sind.
Auch der Umstand, dass Nachhaltigkeit sich rechnen muss, weil es sie sonst schlicht nicht gibt, wird immer mehr verstanden. Denn eine Nachhaltigkeitsstrategie, die Unternehmen eine stabile Basis für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit entzieht, ist ein Widerspruch in sich. Um die Menschen und die Natur zu schützen, muss man Geld verdienen. Das ist inzwischen Konsens. Und das ist eine der Neuigkeiten, die wir nach 15 Jahren Nachhaltigkeitspreis sehen. Nachhaltigkeit ist mehr Wachstums- als Kostenfaktor.
DIALOG: Neben ökologischen und sozialen Aspekten bildet Governance die dritte Säule der Nachhaltigkeit. Das Thema scheint schwieriger greifbar zu sein.
SSH: Ich würde das etwas anders formulieren. Einen schriftlichen Kodex zu verfassen, der Transparenz, Gleichberechtigung und weitere Faktoren sauber abbildet, das kriegen gute Anwälte schnell hin – aber dieses Rahmenwerk mit Leben zu füllen, das ist komplex. Und wenn ein Unternehmen das nicht schafft, schafft es auch an anderen Fronten keinen nachhaltigen Fortschritt.
DIALOG: Wir haben häufig im internationalen Kontext die Diskussion, was der Shift Richtung Nachhaltigkeit für unsere Industrie auf internationaler Bühne bedeutet. Macht uns das fragiler? Stärker? Angreifbarer?
SSH: Ich denke, diese Frage lässt sich vor allem durch eine technologische und industrielle Perspektive beantworten. Wir waren und sind in vielen Bereichen Technologieführer in Green Tech. Nur müssen wir aufpassen, dass uns Themen nicht aus den Fingern rutschen. Das lässt sich an zwei unterschiedlichen Beispielen verdeutlichen: Das erste ist die Photovoltaik. Wir haben diese Technologie zwar wesentlich entwickelt, haben es aber anschließend nicht geschafft, sie zu einem wachsenden, global wettbewerbsfähigen Wirtschaftszweig auszubauen und die Innovationsmotoren im Land zu halten.
Das zweite Beispiel ist die Automobilindustrie: Hier haben wir die Initiative zur Transformation einer Branche, in der wir bereits überragend stark waren, nicht behalten. Nun müssen wir mühsam aufholen. Das sollte uns in den kommenden Jahren nicht mehr allzu oft passieren. Denn wir brauchen dringend diese Exzellenz in den nachhaltigen Technologien, um sowohl die ökonomischen Grundlagen des Landes und seine globale Wettbewerbsfähigkeit zu sichern als auch einen substanziellen Beitrag zur Bewältigung der ökologischen Krise zu leisten. Und hier schließt sich der Kreis: Denn nur Purpose-Weltmeister zu sein, das wird dafür nicht reichen.