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VON MES ZU PRODUKTIONSPLATTFORMEN
Um Best Operating Conditions in der Produktion zu erreichen, müssen MES-Lösungen zu App-Clustern auf integrierten IIoT-Plattformen werden – mit tiefreifenden Folgen für Architektur, Datenmanagement und Betriebsmodelle. Interview mit Gernot Schäfer, Partner, ROI-EFESO
DIALOG: Herr Schäfer, auf welche Veränderungen im MES-Umfeld müssen wir uns einstellen?
GS: Das entscheidende Stichwort ist Best Operating Conditions (BOC). Dabei geht es um die Frage, wie man den laufenden Produktionsprozess monitoren und anhand relevanter Parameter optimieren kann. Es müssen also möglichst viele Daten über Qualität und Spezifikationen, Supply Chain, Fertigungsprozesse, physische Zustände von Material, Maschinen und Umgebung erfasst, korreliert und interpretiert werden. Auf dieser Grundlage können unterschiedliche Parameter laufend und vor allem in Echtzeit angepasst und unter Einsatz kognitiver Systeme ein selbstoptimierender Prozess initiiert werden. Es entsteht also ein KI-basierter Regelkreis, der auf die Erreichung eines optimalen Betriebszustandes, eben der Best Operating Conditions, ausgelegt ist. Auf diese Aufgabe hin müssen die MES-Lösungen künftig ausgerichtet werden.
DIALOG: Wie signifikant sind die Fortschritte, die dabei erzielt werden können?
GS: Ein gutes Beispiel ist die Reduktion von Ausschuss bzw. die Anlaufoptimierung. Diese Themen sind bedingt durch die kleinen Losgrößen und die Vielzahl der Spezifikationen sehr wichtig im Kontext der Best Operating Conditions. Wenn man die vier bis sechs Wochen, die notwendig sind, um die Maschinen einzufahren und die Werkzeuge einzustellen, auf zwei herunterbringt, dann ist das nicht nur eine enorme Kosteneinsparung im Produktionsanlauf, sondern verbessert auch die Marktposition.
DIALOG: Geht das skizzierte Szenario nicht deutlich über das klassische MES hinaus?
GS: Exakt. Wenn man die Produktion selbstoptimierend gestalten will, reichen die Daten, Datenräume und Datenmodelle des MES nicht aus. Man braucht vielfältige strukturierte und unstrukturierte Daten zu jedem Bereich der Fertigung, zu jedem Prozess, jeder Maschine und jedem Fabrikraum, die aus MES- und ERP-Lösungen, QS-Systemen und anderen Datenquellen kommen – und zwar nicht nur aus der eigenen Produktionsumgebung, sondern auch von Lieferanten.
DIALOG: Welche Folgen hat diese Entwicklung für die Architektur von MES und welche Rolle spielen dabei KI-Systeme?
GS: KI ist der Schlüssel, um Zusammenhänge im Gesamtbild echtzeitnah zu erkennen und Optimierungsansätze aufzuzeigen. Solche komplexen Zusammenhänge sind mit den klassischen Analyseverfahren, Methoden und Tools nicht zugänglich, da diese nur einzelne Reports fokussieren, die man aus Datenbanken zieht. Für die Einbindung von MES in solche KI-basierten Regelkreise sind Digitale Zwillinge notwendig, die weit über das eigentliche MES hinausgehen. Die KI-Engine muss in der Lage sein, möglichst in Echtzeit auf einen kompletten Datenpool zuzugreifen.
Es reicht also nicht, wenn die MES-Lösung einfach über Schnittstellen zu ERP-Systemen verfügt, um Fertigungsauftragsfortschritte weiterzugeben, oder zu Maschinen, um diese anzusteuern. Das MES muss in eine Plattform eingebunden sein, die das übergreifende Datenmanagement der strukturierten und unstrukturierten Daten über die MES-Welt hinaus organisiert und die Grundlage für einen Einsatz von KI-gestützten Lösungen bildet.
In diese IIoT-Plattformen werden weitere Microservices, also industrielle Apps, integriert, die spezifische Aufgaben erfüllen, z.B. für Material Sequencing, Materialverfügung, Realtime Location, oder Kamerasysteme, die gestützt durch KI-Lösungen das Material untersuchen und Qualitätskennzahlen ableiten. Auf diese Weise werden unternehmensspezifische Produktionswelten aufgebaut, wobei die Orchestration der Plattform, der Prozesse und Datenflüsse zwischen den einzelnen Apps von zentraler Bedeutung ist. MES werden also zu App-Clustern auf integrierten IIoT-Plattformen, was zur Folge hat, dass Interoperabilität,Konnektoren und Schnittstellen sich in der Architektur von MES-Systemen niederschlagen müssen.
DIALOG: Eine solche Plattform ähnelt dann einem App Store für Smartphones, oder?
GS: Auf den ersten Blick ja. Der große Unterschied liegt darin, dass die Apps für Wetterprognosen, Hotelbuchungen, Aktienkurse oder Nachrichten weder auf der Prozess- noch auf der Datenebene verbunden sind. In der Produktion ist das anders. Hier brauchen wir ein gemeinsames Datenmodell für Produkt- und Prozesszwillinge und müssen die Daten vollständig miteinander synchronisieren – in einem passenden Prozess, der ebenfalls modelliert werden muss. Hier sprechen wir schon von einem anderen Level an Komplexität und einem anderen Know-how, das notwendig ist.
DIALOG: Hat der Markt den Trend zu Produktionsökosystemen rund um MES bereits nachvollzogen?
GS: Es gibt Bewegung weg von monolithischen Lösungen in Richtung sogenannter Manufacturing Integration Platforms (MIP). Sie ermöglichen es Kunden, einzelne Apps einzubinden, um individuelle Architekturen aufzubauen. Auch große Anbieter sehen die Notwendigkeit, ihre Lösungen modular aufzubauen, um Apps von Spezialanbietern, bspw. für Themen wie KI-basierte Optical Defect Detection, zuzulassen. Für den Kunden wird dadurch das Architekturdesign anspruchsvoller, da individuelle IIoT Stacks aufgebaut werden müssen: Layers, Konnektoren, Datenbanken, Data Modelling. Auch infrastrukturelle Voraussetzungen müssen geschaffen werden, wobei das Thema Edge Computing eine wichtige Rolle spielt, denn bei diesen Datenmengen können angemessene Latenzzeiten nur in verteilten Computing Clustern realisiert werden. Gleichzeitig werden aber die Lösungsentwicklung, die Implementierung, der Betrieb und die Weiterentwicklung im Vergleich zu herkömmlichen Architekturen deutlich einfacher.
Man kann davon ausgehen, dass es künftig drei Arten von Anbietern geben wird: Zum einen diejenigen, die Gesamtplattformen anbieten können, die sowohl die klassischen MES-Module als auch die IIoT-Plattformen beinhalten. Von ihnen werden einige auch den Orchestration Layer selbst zur Verfügung stellen. Zum anderen diejenigen, die sich auf Spezialthemen fokussieren werden, ob Quality Inspection, Scheduling-Verfahren oder Koordination von AGV-Schwärmen. Sie werden sich auf einzelne Microservices konzentrieren. Und schließlich wird es Anbieter geben, die zwar die Plattform und den Orchestration Layer bereitstellen, sich aber die Apps zuliefern lassen werden. Das erfordert eine bestimmte Marktmacht und Position, wie sie vor allem die großen OEMs und die globalen Cloud-Services-Anbieter haben.
DIALOG: Welche Kompetenzen sind notwendig, um den Wandel von klassischen MES-Lösungen hin zu integrierten, modularen Produktionswelten sicher zu gestalten?
GS: Man muss Methoden-, Technologie- und Produktionskompetenz kombinieren. Das ist die Voraussetzung, um zu wissen, welche Daten man typischerweise aus bestimmten Maschinentypen holen kann und wie die technische Integration erfolgt, wie der Solution Stack so aufgebaut werden kann, dass das Zusammenspiel reibungslos funktioniert. Und man sollte gut den Markt kennen, um die richtigen Apps für die Produktionsplattformen zusammenzubringen und sicherzustellen, dass seitens der Anbieter ein angemessener Service gewährleistet wird.